Um wohl kaum einen lebenden Wissenschaftler ranken sich so viele biographische Legenden wie um Grothendieck, der in den 60er Jahren viele Gebiete der modernen Mathematik revolutionierte, später aber eher mit anarchistisch-religiösen und radikal-ökologischen Texten auffiel.
Der folgende Abschnitt ist einem Vortragsskript von Winfried Scharlau entnommen.
Alexander Grothendieck (geb.1928) ist einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Er hat vor allem die Algebraische Geometrie revolutioniert. Das Werk vieler berühmter Mathematiker (z.B. von Faltings oder Wiles) wäre ohne seine Vorarbeiten überhaupt nicht denkbar. Über seinem Leben liegt jedoch ein geradezu mysteriöses Dunkel. Viele biographische Angaben in Literatur, Presse oder Internet sind zweifelhaft, falsch, oft frei erfunden. Sein Vater war ein russisch-jüdischer Anarchist, der an vielen sozialistischen, anarchistischen und kommunistischen Revolutionen von 1905 bis 1936 teilgenommen hat. Seinen Lebensunterhalt verdiente er lange Zeit als Straßenfotograf, obwohl er eigentlich Schriftsteller werden wollte. Er ist in einem deutschen KZ ums Leben gekommen. Grothendiecks Mutter entstammte einer Hamburger Familie. Schon früh widersetzte sie sich allen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie stand anarchistischen Kreisen nahe, redigierte zeitweise (noch „minderjährig”) eine Wochenzeitung für Hamburger Prostituierte, sie wirkte als Schauspielerin in dem expressionistischen Experimentaltheater „Die Kampfbühne”, und auch sie wollte eigentlich Schriftstellerin werden. […] Grothendiecks Jugend wurde geprägt durch Menschen, die nicht den kleinsten Kompromiss kannten. Von 1950 bis 1970 stand Grothendieck ganz im Zentrum der modernen Mathematik. Dann zog er sich zunehmend aus dem Wissenschaftsbetrieb und der bürgerlichen Welt zurück. Seit vielen Jahren hat er alle Kontakte zu ehemaligen Kollegen, Schülern und Verwandten abgebrochen. Er lebt als „Aussteiger” in einem nur ganz wenigen Eingeweihten bekannten Dörfchen in Südfrankreich.
Grothendieck ist der Begründer vieler der in der modernen Mathematik zentralen Theorien: der K-Theorie, der Theorie der Motive (Homologietheorie für Varietäten über beliebigen Körpern), Schemata in der Algebraischen Geometrie, ‘Standardvermutungen’ über Algebraische Zykel, l-adische Kohomologie, kristalline Kohomologie, Theorie der ‘Dessins des Enfants‘ (über die absolute Galoisgruppe),…
Bei Wikipedia findet man folgende Würdigung: Grothendieck ist ein Theorien-Erbauer par excellence. Er drängt stets zu größtmöglicher Abstraktion unter Verwendung der homologischen Algebra, macht sie dann aber für den Beweis von Theoremen auch fruchtbar. Ein Beispiel ist sein Beweis seiner Version des Riemann-Roch Theorems in den 1950er Jahren. Grothendieck selbst hatte von vielen Bereichen der klassischen Mathematik (selbst in der algebraischen Geometrie), wie er selbst zugibt, nur geringe Kenntnisse, holte sich die notwendigen Informationen aber in Diskussionen von Freunden wie Jean-Pierre Serre. Das Fernziel seiner Entwicklungen der algebraischen Geometrie, die er solange abstrahierte, bis sie auf gleicher Stufe wie die Zahlentheorie handhabbar war, war der Beweis der Weil-Vermutungen, worin erst sein Schüler und Mitarbeiter Pierre Deligne 1974 erfolgreich war.
Grothendieck hat sich später auch in vielen philosophischen (oder besser esoterischen) Fragen als Theorien-Erbauer betätigt, zum Beispiel in ‘Der Schlüssel der Träume’ (hier findet man eine englische Zusammenfassung von Leila Schneps) oder dem darauf aufbauenden anarchistisch-religiösen Text ‘Die Mutanten’ (hier eine detaillierte deutsche Erklärung von Winfried Scharlau). In ‘Die Mutanten’ diskutiert er (historisch reale) Persönlichkeiten, die “von einem Wissensdurst getrieben sind, die eigene Psyche bzw. „Seele” und deren Beziehung zu Gott (oder dem Tao, oder dem All, oder wie man Ihn oder Es nennen mag) kennenzulernen”, u.a. Darwin und Riemann, aber auch weniger bekannte Wissenschaftler.
Eine ausführliche Biographie (mit einer detaillerten Würdigung seiner wissenschaftlichen und einer kurzen und wertungsfreien Darstellung seiner philosophischen Arbeiten) erschien vor einigen Jahren in den Notices der AMS (Teil 1, Teil 2).
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