“Auch ein Student der Mathematik war anwesend, […] der mit Eifer sprach.
Er hatte die Behauptung aufgestellt, dass man durch einen Punkt mehr als eine Parallele zu einer Geraden ziehen könne, Frau Rechtsanwalt Hagenström hatte gerufen: ,Dies ist unmöglich!’ und nun bewies er es so schlagend, dass alle taten, als hätten sie es verstanden.”
(Thomas Mann: “Der kleine Herr Friedemann”)

Eigentlich soll es in den nächsten Folgen um hyperbolische Flächen, also Flächen der Krümmung -1 gehen. Wie (nicht nur) das Zitat von Thomas Mann zeigt, gibt es viele populäre Mißverständnisse zur Rolle der hyperbolischen Geometrie. Deshalb heute zunächst einige Worte zur historischen Einordnung.

Bekanntlich gibt es im Aufbau der Geometrie nach Euklid das Parallelenpostulat, von dem bis in das 19. Jahrhundert unbekannt war, ob es logisch aus Euklids anderen Postulaten folgt oder tatsächlich ein Postulat ist, das man nicht beweisen kann, sondern das man als ‘selbstverständlich’ voraussetzen muß.

Legendre hatte 1794 bewiesen, daß das Parallelenpostulat logisch äquivalent dazu ist, daß die Innenwinkelsumme im Dreieck 180o beträgt.
Die Frage nach der Beweisbarkeit des Parallelenpostulats ist dann also dasselbe wie die Frage, ob es keine Geometrien gibt, in denen die Innenwinkelsumme von Dreiecken nicht 180o ist.

Natürlich wußte man, daß gekrümmte Flächen im Raum eine andere Geometrie haben.
Zum Beispiel ist auf einer Sphäre (vom Radius 1) die Innenwinkelsumme eines Dreiecks 180o+A. (A ist der Flächeninhalt des Dreiecks.)

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Gauß hatte wohl auch schon geahnt, daß es zur sphärischen Geometrie eine “duale” Geometrie gibt, in der die Innenwinkelsumme gerade 180o-A, also stets kleiner als 180o ist, die aber alle anderen Axiome und Postulate Euklids erfüllt.

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Auf jeden Fall wußte er, daß es negativ gekrümmte Flächen im 3-dimensionalen Raum gibt, bei denen die Innenwinkelsumme kleiner als 180o, wenn auch nicht genau 180o-A, ist:
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Und Minding hatte 1840 berechnet, daß in der ‘halben’ Pseudosphäre (Bild rechts, s. auch TvF 49) die Innenwinkelsumme von Dreiecken genau 180o-A beträgt, die Pseudosphäre also eigentlich genau die gewünschte hyperbolische Geometrie realisiert. Allerdings ist die ‘halbe’ Pseudosphäre nicht in beiden Richtungen unendlich, ist also nur ein Modell für einen Teil der hyperbolischen Ebene.
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Bolyai und Lobatschewski hatten in den 1820er Jahren untersucht, wie eine nichteuklidische Geometrie aussehen würde, in der alle Postulate Euklids mit Ausnahme des Parallelenpostulats gelten.

Stilwell schreibt: “Because of their courage in advocating an unconventional geometry, Bolyai and Lobachevsky have won the admiration of many historians. Nevertheless, the historical significance of their work is debatable.”

Tatsächlich hatten beide keineswegs bewiesen, daß es eine nichteuklidische Geometrie gibt. Sie hatten lediglich über diese (damals noch hypothetische) Geometrie geforscht (vergleichbar den heutigen Stringtheoretikern :-)).
Es ist aber durchaus bemerkenswert, wie weit sie nur aus den Axiomen (ohne ein konkretes Modell für Berechnungen zur Verfügung zu haben) gekommen sind: sie entwickelten die trigonometrischen Formeln (also die Beziehungen zwischen Seitenlängen und Winkeln hyperbolischer Dreiecke), berechneten die Innenwinkelsumme als 180o-A, den Umfang und Flächeninhalt von Kreisen, und Lobatschewski bestimmte sogar das Volumen hyperbolischer Tetraeder mittels des (heute Lobatschewski-Funktion genannten) Integrals Λ(x)=-\int_{0}^x log I2sin tI \; dt. (WordPress, von dem ich die Formel importiert habe, kennt wohl keine Betragsstriche. Man nimmt natürlich den Logarithmus des Betrags von 2sin(t).)

Daß es hyperbolische Geometrie wirklich gibt, zeigten weder Bolyai noch Lobatschewski. Tatsächlich ist es zum Beispiel nicht möglich, im 3-dimensionalen euklidischen Raum eine hyperbolische Fläche zu finden. (Die oben abgebildete unvollständige Pseudosphäre läßt sich nicht zu einer vollständigen hyperbolischen Ebene erweitern.)

Die notwendigen Begriffe für eine Konstruktion der hyperbolischen Ebene wurden erst durch Riemanns Habilitationsvortrag erklärt (TvF 52).
Tatsächlich fand Beltrami 1868, also noch im Jahr der (postumen) Veröffentlichung von Riemanns Vortrag das erste Modell der hyperbolischen Ebene.
Erst damit wußte man dann tatsächlich, daß es nichteuklidische Geometrie gibt (auf die sich die von Bolyai und Lobatschewski gefundenen Berechnungen und Formeln also anwenden lassen). Zu konkreten Modellen der hyperbolischen Ebene nächste Woche.

Diese ganze Geschichte ging soweit nur um eine inner-mathematische Frage: welche Geometrien aus mathematischer Sicht möglich sind und welche die Euklidischen Postulate (eventuell ohne das Parallelenpostulat) erfüllen.
Eine ganz andere Frage ist natürlich die nach der tatsächlichen Geometrie des Raumes (oder der Raum-Zeit). Das ist natürlich keine rein mathematische Frage, sondern abhängig von astronomischen Beobachtungen, und tatsächlich ist diese Frage bis heute offen.
Jedenfalls geht man heute davon aus, daß das Universum kompakt ist (d.h. einen endlichen Durchmesser hat, gegenwärtig ca. 100 Milliarden Lichtjahre), womit es jedenfalls nicht einfach der aus der Schule bekannte Anschauungsraum R3 sein kann. (Es könnte aber durchaus trotzdem euklidische Geometrie haben, z.B. ein 3-dimensionaler Torus sein, der lokal die selbe Geometrie wie der R3 hat. Man weiß es nicht.)

Inwieweit es (insbesondere Gauß) bei der Entwicklung von nichteuklidischer Geometrie nicht nur um Mathematik, sondern tatsächlich um die philosophische Frage nach unserem Anschauungsraum ging, wird sich wohl nicht mehr wirklich klären lassen. Die Wikipedia schreibt dazu:

Zwischen 1818 und 1826 leitete Gauß die Hannoversche Landesvermessung und entwickelte dabei Verfahren mit erheblich gesteigerter Genauigkeit. In diesem Zusammenhang entstand die Vorstellung, er habe empirisch nach einer Krümmung des Raumes gesucht, indem er die Winkelsumme in einem Dreieck vermaß, das vom Brocken im Harz, dem Inselsberg im Thüringer Wald und dem Hohen Hagen bei Göttingen gebildet wird. Sie wird heute mehrheitlich als Legende angesehen, auch wenn die Möglichkeit, Gauß habe nach Abweichungen vom üblichen Wert der Winkelsumme von 180° gesucht, nicht mit letzter Konsequenz ausgeschlossen werden kann. Die Genauigkeit seiner Instrumente hätte jedoch für den Nachweis der winzigen Krümmung des Raumes im Gravitationsfeld der Erde bei weitem nicht ausgereicht. Sie ist auch heute noch nicht möglich.

Zur Erklärung (s. TvF 47): Natürlich ist bei den von Gauß im Königreich Hannover vermessenen sphärischen Dreiecken die Innenwinkelsumme größer als 180o. Die Abweichung ist viel geringer als bei dem im Bild eingezeichneten viel größeren Dreieck, aber jedenfalls noch meßbar. Gauß’ Messungen waren aber so aufgebaut, daß die Eckpunkte passend erhöht (auf Kirchtürmen oder Bergen) ein ebenes Dreieck bildeten. Wenn er mit seinen Messungen eine Abweichung von 180o bekommen hätte, wäre dies ein Beleg für die “Krümmung des Raumes im Gravitationsfeld der Erde” gewesen. Auch mit dem heutigen Wissen der Relativitätstheorie ist die gravitationsbedingte Krümmung der Raum-Zeit und die Abweichung der Innenwinkelsumme von 180o aber zu gering, als das Gauß sie hätte messen können.

Die ersten beiden Bilder sind von https://images.math.cnrs.fr/Geometriser-l-espace-de-Gauss-a.html, die anderen aus der Wikipedia.

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