Irrfahrten in Gruppen.
Vor zwei Wochen erwähnten wir Irrfahrten – zufällige Bewegungen, bei denen man jederzeit seine Richtung zufällig wählt (d.h. alle Richtungen sind gleichwahrscheinlich). Polya hatte 1912 bewiesen, dass man bei einer Irrfahrt in der Ebene mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (d.h. Wahrscheinlichkeit 1) wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt, während das im drei-dimensionalen Raum oder z.B. in der hyperbolischen Ebene nicht der Fall ist. (“If you loose yor key in hyperbolic space you never find it back.”1)
Was ist der geometrische Hintergrund für die unterschiedlichen Rückkehrwahrscheinlichkeiten?
Eine etwas einfachere Aufgabe ist es, wenn man sich nicht in der gesamten Ebene, sondern nur auf einem Gitter (z.B. zwischen den Kreuzungen eines Strassennetzes) bewegt. Dann kann man die Rückkehrwahrscheinlichkeit mit elementarer Wahrscheinlichkeitstheorie berechnen und bekommt z.B. im oben abgebildeten Gitter die Rückkehrwahrscheinlichkeit 1.
Jeder Punkt der Ebene ist “nicht sehr weit entfernt” von einem Punkt des Gitters (genauer: hat Abstand höchstens 0.707… vom nächstgelegenen Gitterpunkt), es ist also plausibel, daß die Rückkehrwahrscheinlichkeit in der Ebene eng mit der Rückkehrwahrscheinlichkeit des Gitters zu tun haben sollte – und dies ist auch tatsächlich der Fall.
Das legt folgenden allgemeinen Ansatz nahe: wenn man die Rückkehrwahrscheinlichkeit in einem Raum bestimmen will, sucht man sich ein Gitter (mit der Eigenschaft, daß jeder Punkt des Raumes Abstand höchstens C von einem Gitterpunkt hat, für eine passende Konstante C) und berechnet die Rückkehrwahrscheinlichkeit auf diesem Gitter.
Gitter und Gruppentheorie
Die Ecken des oben abgebildeten Gitters entsprechen der Gruppe Z2={(m,n): m,n ganze Zahlen}.
Entsprechend kann man den 3-dimensionalen Raum “annähern” durch ein Gitter, dessen Ecken der Gruppe Z3={(m,n,l): m,n,l ganze Zahlen} entsprechen.
Auch in komplizierteren Räumen (z.B. der hyperbolischen Ebene) hätte man gern solche Gitter, in denen sich Rückkehrwahrscheinlichkeiten direkt berechnen lassen. Der Ansatz zur Konstruktion solcher Gitter ist über die Gruppentheorie.
Vor 3 Wochen hatten wir beschrieben, wie man jeder Gruppe einen Graphen zuordnet, ihren Cayley-Graphen. Die Bilder unten zeigen die Cayley-Graphen von Z und Z2:
Cayley-Graph von Z |
Cayley-Graph von Z2 |
Der Cayley-Graph von Z kann offensichtlich so auf die 1-dimensionale Gerade R1 gelegt werden, dass jeder Punkt der Geraden Abstand höchstens 0.5 von einer der Ecken hat.
Die Ecken des Cayley-Graphen von Z2 haben von jedem Punkt der Ebene Abstand höchstens 0.707…
Allgemein gibt es in der Geometrie den Begriff der “kokompakten, freien Gruppenwirkung” auf einem Raum, der im Prinzip gerade besagt, dass der Cayleygraph der Gruppe isometrisch auf den Raum abgebildet werden kann, so dass jeder Punkt des Raumes beschränkten Abstand von einer Ecke des Cayley-Graphen hat. (Z wirkt also kokompakt auf der Gerade, Z2 wirkt kokompakt auf der Ebene.)
Noch ein instruktives Beispiel einer kokompakten, freien Gruppenwirkung auf der hyperbolischen Ebene:
Quelle: https://mathworld.wolfram.com/UniversalCover.html
Die Gruppe ist in diesem Fall übrigens die Fundamentalgruppe der unten abgebildeten Brezelfläche. Das ist kein Zufall – zu jeder Fläche hat man eine kokompakte Wirkung der Fundamentalgruppe auf der universellen Überlagerung, vgl. TvF 65, und die universelle Überlagerung der Brezelfläche ist gerade die hyperbolische Ebene.
Quelle: https://mathworld.wolfram.com/UniversalCover.html
Der Nutzen dieser Konstruktion ist, dass es einfacher ist, Rückkehrwahrscheinlichkeiten in solchen Cayley-Graphen zu berechnen.
Und – selbst wenn die Bewegung in der Gruppe eine andere ist als im ganzen Raum (man kann sich ja sozusagen nur zwischen den Ecken des Cayley-Graphen bewegen), kann bewiesen werden, dass man in einem Raum dann und nur dann mit Wahrscheinlichkeit 1 zum Ausgangspunkt zurückkehrt, wenn das selbe im Cayley-Graphen der (kokompakt und frei wirkenden) Gruppe der Fall ist.
Um zu wissen, ob man
auf der Gerade / in der Ebene/ im Raum / in der hyperbolischen Ebene
bei einer Irrfahrt (Brownschen Bewegung) mit Wahrscheinlichkeit 1 zum Ausgangspunkt zurückkommt, muss man also “nur” berechnen, ob dies
in den Cayley-Graphen von Z / Z2 / Z3 / der Fundamentalgruppe der Brezel
der Fall ist.
Volumenwachstum und Rückkehrwahrscheinlichkeit
In Kapitel 6 des unten2 verlinkten Buches von Varopoulos, Coulhon, Saloff-Coste wird bewiesen, dass man in einem Cayley-Graphen nur dann mit Wahrscheinlickeit 1 zum Ausgangspunkt zurückkehrt, wenn die Gruppe quadratisches Volumenwachstum hat.
(“Volumenwachstum” bezieht sich hier auf die Anzahl der Ecken in einem Kreis vom Radius r. Zum Beispiel hat Z genau 2r+1 Ecken in einem Ball vom Radius r, das Volumen wächst also linear. In Z2 sind es (ohne genau nachzuzählen) offensichtlich weniger als (2r+1)2 Ecken in einem Ball vom Radius r, das Volumen wächst also quadratisch. Dagegen ist in Z3 das Volumenwachstum kubisch und in der Fundamentalgruppe der Brezel sogar exponentiell.)
Die einzigen Gruppen G mit quadratischem Volumenwachstum sind Gruppen G, die (evtl. nach Kürzen einer endlichen Gruppe3) isomorph zu 0, Z oder Z2 sind. (Das folgt aus einem Satz von Gromov.)
Das sind dann also auch die einzigen Gruppen mit Rückkehrwahrscheinlichkeit 1.
Zurückübersetzt in das ursprüngliche geometrische Problem:
– in der Ebene ist die Brownsche Bewegung rekurrent, d.h. man kehrt mit Wahrscheinlichkeit 1 zum Ausgangspunkt zurück (weil dies für Z2 der Fall ist)
– im dreidimensionalen Raum ist die Brownsche Bewegung nicht rekurrent (weil für Z3 die Rückkehrwahrscheinlichkeit nicht 1 ist)
– in der hyperbolischen Ebene ist die Brownsche Bewegung nicht rekurrent (weil für die Fundamentalgruppe der Brezel die Rückkehrwahrscheinlichkeit nicht 1 ist).
1 Wobei es eigentlich egal ist, ob man den Schlüssel wiederfindet. Man kommt ja auch nie zu der Tür zurück, zu der der Schlüssel gehört.
2 Varopoulos, Saloff-Coste, Coulhon: Analysis and Geometry on Groups
3 Genauer: es gibt eine exakte Sequenz 1 -> N -> G -> F -> 1, wobei F eine endliche Gruppe und N entweder 0 oder Z oder Z2 ist.
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