Wird “Neuro-Ethik” die Pseudo-Wissenschaft des 21. Jahrhunderts?
Der Tag der Hochzeit ihrer besten Freundin: ein Tag, auf den sich Anna seit Monaten gefreut hat und an dem alles perfekt sein soll – schließlich ist sie die Trauzeugin. Doch ausgerechnet an diesem Morgen kommt es zum großen Zerwürfnis zwischen Anna und ihrem Freund Roland. Der Streit ist so heftig, dass es ihr unmöglich erscheint, danach ein Fest zu besuchen, geschweige denn zu koordinieren, wie sie es versprochen hat. Aber ebenso wenig kann sie der besten Freundin den “schönsten Tag des Lebens” verderben. Was tun?
Viele würden ihre Verzweiflung in einer ähnlichen Situation vermutlich mit ein paar Gläsern Sekt hinunterspülen. Doch in diesem Fall verbietet sich das, denn für die Organisation braucht Anna einen klaren Kopf. Nehmen wir nun an, ihr WG-Mitbewohner Tim, der das ganze morgendliche Drama verfolgt hat, schlägt Abhilfe vor: eine Pille, die er selbst wegen seiner Depressionen einnimmt. Bei ihm wirke das Mittel regelrecht Wunder, außerdem habe er neulich gelesen, dass es auch die Stimmung gesunder Menschen verbessere. Einen Versuch sei es jedenfalls wert – Nebenwirkungen habe die Tablette sehr selten und fast nur harmlose.
Diese rührende Geschichte stammt nicht aus der Bravo oder der Brigitte, auch nicht aus Men’s Health, sondern ist die Einleitung eines Memorandums zum Neuro-Enhancement von (laut Selbstdarstellung im Vorwort) “sieben führenden Experten”, das heute um 16 Uhr von der Europäischen Akademie vorgestellt werden wird und in den letzten Tagen schon durch die Presse ging.
PC: “Neuro-Enhancement”
Das Memorandum trägt den Titel “Das optimierte Gehirn” und verfolgt das erklärte Ziel, “Befürchtungen gegenüber der Nutzung von NEPs” entgegenzutreten. Die Autoren beklagen, Begriffe wie Mind-Doping oder Medikamentenmißbrauch würden eine negative Beurteilung schon vorweg nehmen und einer unvoreingenommenen Beurteilung des Themas im Wege stehen. Die Autoren möchten, daß stattdessen von NE, »Neuro-Enhancements« (von englisch to enhance = aufwerten, mehren) gesprochen wird.
Philosophisches
“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern”, dieses Marx-Zitat prangt in goldenen Lettern in der Haupthalle der Humboldt-Universität, auch heute noch. (Aus Gründen des Denkmalschutzes darf es nicht entfernt werden – kein Witz.)
Die Autoren des Memorandums zum Neuro-Enhancement kommen zwar, allem Anschein nach, aus einer anderen politischen Ecke, aber auch sie sehen ihre Aufgabe offensichtlich nicht im Analysieren und Interpretieren.
Das Memorandum liest sich über weite Strecken wie ein politisches Pamphlet. Zwar wird durchaus, fast schon gebetsmühlenhaft wiederholt, daß komplexe Bewertungen und empirische Befunde und gesellschaftliche Reflexionen und ethische, rechtsphilosophische und politische Klärung und und und und nötig wären (und überhaupt ist man sehr bemüht, vordergründig den Eindruck einer ausgewogenen Analyse zu erwecken – bis hin zu philosophischen Erkenntnissen wie “Auch dürfen NEPs keine Entschuldigung dafür sein, das Bemühen um eine bessere Gesellschaft zu vernachlässigen.”) – tatsächlich kommen die Autoren aber ganz ohne komplexe Bewertungen und empirische Befunde zu sehr klaren Urteilen wie
Selbst im Fall sehr riskanter Tätigkeiten kommt ein staatliches Eingreifen nur als Ultima und Minima Ratio in Frage
oder
wäre es dann wohl sinnvoller, Therapieangebote für Notleidende zu schaffen, als den Zugang zu NEPs grundsätzlich zu verbieten
oder
Auch wenn noch nicht abzusehen ist, wann die prognostischen Unklarheiten über die Folgen von Neuro-Enhancement bei Kindern ausgeräumt sein werden, sollten wir schon heute mit der ethischen Diskussion über diese Möglichkeiten beginnen. Ihre pauschale Ablehnung erscheint angesichts des positiven Potenzials von NE jedenfalls unangemessen und voreilig.
oder
Das Grundgesetz gewährt jedoch Eltern weit reichende Freiheiten bei ihren erzieherischen Entscheidungen und bei der mentalen Formung ihres Nachwuchses. Die Alternative, eine staatlich gesteuerte Erziehungsideologie, wäre indiskutabel.
oder, besonders originell:
In der Praxis könnte der Staat beispielsweise den Kauf von Neuro-Enhancement-Präparaten durch wohlhabende Personen besteuern und das damit eingenommene Geld für öffentliche Bildungsförderung verwenden – etwa zur Subvention von NEPs für Einkommensschwache. Entspräche diese Maßnahme nicht ganz dem Gebot der Verteilungsgerechtigkeit?
Ausgewogenheit
Wie gesagt ist man durchaus sehr bemüht, den Eindruck einer ausgewogenen Sichtweise zu vermitteln, gerade auch, wo es eigentlich nicht recht paßt, in sozialen Fragen:
Allerdings könnten gerade sozial Benachteiligte durch ein solches Angebot unter erheblichen Druck geraten, dieses gegebenenfalls auch gegen ihre eigentliche Überzeugung anzunehmen, um weitere Nachteile im gesellschaftlichen Wettbewerb zu vermeiden.
Na ja, also diese Befürchtung ist dann vielleicht doch eher unbegründet. Der Druck zur Einnahme von Neuro-Enhancern (wenn es diese denn einmal geben sollte) dürfte schon eher bei den gut- und besserverdienenden entstehen – man kann sich nur schwer vorstellen, daß der Chef einer Putzkolonne seine MitarbeiterInnen zur Einnahme von Psychopharmaka verpflichtet, damit sich diese sich bei der Arbeit besser konzentrieren …
Seriöse Presse
Wenn man seriöse Pressemeldungen zum Thema verfolgt, dann wird klar, daß es sich um eine Phantomdebatte handelt – die angepriesenen Neuro-Enhancer gibt es nicht und wird es auf absehbare Zeit nicht geben.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt vorgestern: “das ist spekulative Ethik, die zwar philosophisch interessant ist, der man aber derzeit nicht zuviel Forschungszeit und -geld widmen sollte. In absehbarer Zeit ist es unwahrscheinlich, dass solche Wundermittel auf den Markt kommen. Gerade Gedächtnisforscher mussten in den letzten Jahren erkennen, dass sie die Schwierigkeiten unterschätzt hatten, Ergebnisse aus Mäuseversuchen auf das menschliche Gehirn zu übertragen. Insbesondere zeigte sich immer wieder, dass Stoffe, die einzelne kognitive Funktionen stärkten, andere beeinträchtigten.”
Aber offensichtlich geht es den neuen “Neuro-Ethikern” ja auch nicht darum, die Wirklichkeit zu interpretieren, sondern sie zu verändern – wenn schon nicht durch Neuro-Enhancer, dann durch politisch motivierte pseudowissenschaftliche Debatten.
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