Lars Fischers Bundestagspetition hat nach einem Tag schon mehr als 3.000 Unterzeichner.

Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass wissenschaftliche Publikationen, die aus öffentlich geförderter Forschung hervorgehen, allen Bürgern kostenfrei zugänglich sein müssen. Institutionen, die staatliche Forschungsgelder autonom verwalten, soll der Bundestag auffordern, entsprechende Vorschriften zu erlassen und die technischen Voraussetzungen zu schaffen.

Weil es, wie aus manchen Kommentaren ersichtlich ist, einige Verwirrung über das Ziel der Petition gibt, will ich hier kurz ein paar Fakten aus meinem eigenen Gebiet zusammentragen.

Einen Überblick zum Thema “Open Access in der Mathematik” (von Ulf Rehmann, Bielefeld) findet man hier. Die wesentlichen Punkte aus diesem Artikel:
– viele Fachzeitschriften haben ihre (z.T. bis in das 19. Jahrhundert zurückgehenden) Bestände digitalisiert und frei zugänglich gemacht. Das betrifft auch solche Zeitschriften, deren aktuelle Angebote kostenpflichtig sind. (Zum Beispiel sind die Ausgaben von Crelle bis 1997, der Mathematischen Annalen bis 1996, der Annales de l’ENS bis 2000 frei zugänglich, später erschienene Ausgaben sind kostenpflichtig.)
– es gibt mehr als 120 mathematische Zeitschriften, die Open Access sind, z.B. Documenta Mathematica, New York J. Math., Ann. Ac. Sc. Fennicae, Turkish J.Math., Kyushu J.Math., Nagoya Math. J. oder auch das Bulletin der AMS.
– mathematische Preprint-Literatur aller Teildisziplinen wird seit 1991 über das arXiv.org angeboten und sehr intensiv genutzt

Ebenfalls von Ulf Rehmann stammen Listen der Preise mathematischer Fachzeitschriften von 1994 bis 2008. (Ältere Listen und eine Diskussion dazu gibt es bei Rob Kirby, Berkeley. Zur Problematik der Preisunterschiede bei Fachzeitschriften hatte ich hier schon einmal geschrieben, es ging i.W. um diesen Artikel in den Notices of the AMS.)

Eine ähnliche Diskussion wird in den USA schon seit einiger Zeit kontrovers geführt. Es geht dort darum, daß das National Institute of Health medizinische Forschung nur dann fördert, wenn sie auf PubMed (also als Open Access) öffentlich zugänglich gemacht wird (zusätzlich zur Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift). Gegen diese Praxis gibt es eine Gesetzesinitiative des Republikaners John Conyers. Es gibt eine Gegeninitiative (gegen Conyers Gesetzesiniative, also für die Praxis des National Institute of Health), die von einer Vielzahl Nobelpreisträger, Jura-Professoren, der American Library Association und der Alliance for Taxpayer Access unterstützt wird. (Es gibt aber auch kritische Stimmen. Auch die gesetzliche Privilegierung eines einzelnen Open Access-Anbieters, nämlich PubMed, wird von manchem als problematisch angesehen.) Eine gegen den Vorschlag von Conyers gerichtete Gesetzesinitiative ist von Lieberman und Cornyn initiiert worden. (Alles etwas unübersichtlich:-). Eine Diskussion unter Mathematikern dazu hier.)

In der Mathematik ist es gängige Praxis, daß (fast) alle Preprints auf das arxiv gestellt werden, also frei zugänglich sind. Dort bleiben sie auch, nachdem sie in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurden. Mir ist kein Beispiel einer Fachzeitschrift bekannt, die verlangen würde, veröffentlichte Arbeiten wieder vom arxiv zu nehmen. Manche Zeitschriften verlangen allerdings, daß nicht die veröffentlichte Version auf dem arxiv stehen darf, sondern nur die “vorletzte” Version.

Für die Mathematik würde sich durch ein solches Gesetz also wenig an der bereits geübten Praxis ändern. Das sieht in anderen Fächern, etwa der Medizin, sicher anders aus.

Kommentare (11)

  1. #1 rank zero
    11. November 2009

    a)

    In der Mathematik ist es gängige Praxis, daß (fast) alle Preprints auf das arxiv gestellt werden, also frei zugänglich sind.

    Jährlich werden derzeit ca. 15000 preprints auf das arXiv in der Mathematik gestellt (https://arxiv.org/year/math/09). Längst nicht alle schaffen es zur Publikation (ich schätze mal max. 10000).

    Dem gegenüber stehen Publikationen in der Größenordnung von ca. 100 000/Jahr in der Mathematik.

    b) Beim Thema wäre als wesentliche Komponente zu nennen: Wenn man Open Access konsequent auf dem Gesetzesweg durchsetzen will, dann muss der Staat auch nachhaltig die zusätzlichen Mittel zur Bereitstellung der Verlagsinfrastruktur garantieren. Dies kommt wohl billiger, als die Preise für Chaos, Soliton, Fractals & Co. zu zahlen, ist aber eben nicht zum Nulltarif zu haben.

  2. #2 Thilo Kuessner
    11. November 2009

    Ja, große Teile der Angewandten Mathematik sind auf dem arxiv nicht vertreten. In der Reinen Mathematik werden aber nach meinem Eindruck sicherlich schon mehr als 90% der wichtigen Arbeiten auf das arxiv gestellt.

    In der Zahl von 100.000 Veröffentlichungen im Jahr sind sicherlich auch Konferenzbände oder auch die vielen kleinen chinesischen, russischen, japanischen Zeitschriften mitgezählt, oder z.B manche Uni-Zeitschriften, die keine große Verbreitung haben?

    Wenn man wirklich nur diejenigen Zeitschriften zählt, die weltweit von Bibliotheken gekauft werden, dürfte das Zahlen-Verhältnis arxiv/Zeitschriften ganz gut aussehen.

  3. #3 rank zero
    11. November 2009

    Wenn man wirklich nur diejenigen Zeitschriften zählt, die weltweit von Bibliotheken gekauft werden, dürfte das Zahlen-Verhältnis arxiv/Zeitschriften ganz gut aussehen.

    Ich weiß zwar nicht ganz genau, was weltweit geordert wird, aber es könnte gut sein, dass wir hier über die leere Menge reden. Die Mathematik ist in ihren lokalen Ausprägungen etwas fragmentierter, als man sich das für gewöhnlich vorstellt. Indische Bibliotheken halten ganz andere Zeitschriften für wichtig als ein deutscher Bibliothekar.

    Konferenzbände sind in den 100000 enthalten, aber gerade auch im arXiv breit vertreten – ganz einfach, weil sie oft weniger gut zugänglich sind, werden sie von den Autoren gerne ins arXiv gestellt.

    Was die “kleinen chinesischen, russischen, japanischen” und “manche Uni-Zeitschriften, die keine große Verbreitung haben” betrifft, sehe ich hier die Gefahr einer gewissen nordatlantischen Arroganz. Meinst Du damit, dass dort per se irrelevante Mathematik drin steht? Andersherum, fällt das “Münster Journal of Mathematics” unter die kleinen Uni-Zeitschriften, die ein chinesischer Mathematiker ruhig ignorieren kann?

    Die arXiv-Quote ist in der reinen Mathematik höher, die “90% der wichtigen Arbeiten” dürfte aber kaum zu erhärten sein. Es scheint mir eher so, dass man nach einiger Zeit der Gewöhnung, morgens ins arXiv zu schauen, den “Rest” einfach nicht mehr als wichtig empfindet. Dieses subjektive Empfinden dann aber auch noch zu generalisieren, scheint mir wenig wissenschaftlich.

    Nicht konstruiert, sondern wirklich als Test habe ich mal im arXiv nach Misha Gromov gesucht. Ergebnisse des Abel-Preisträgers 2009: Null. Es dürfte Mathematiker geben, die für ihr Gebiet allein diese Lücke für mehr als 10% der “wichtigen Arbeiten” ansehen.

  4. #4 Thilo Kuessner
    11. November 2009

    Also, in der Topologie sind sicher mehr als 90% der wichtigen Arbeiten im arxiv. Zum Beispiel werden Arbeiten aus “Geometry & Topology” und “Algebraic & Geometric Topology” grundsätzlich auch aufs arxiv gestellt, zu 100%.
    Zu den kleinen chinesischen, russischen oder japanischen Zeitschriften: ich würde davon ausgehen, daß wichtige Resultate ins Englische übersetzt und noch einmal auf Englisch veröffentlicht werden. Zeitschriften, die NUR in der Landessprache erscheinen, haben auch keine große Verbreitung. Abgesehen davon ist es in Japan und Rußland so, daß Studenten vor ihrer Dissertation bereits Veröffentlichungen vorweisen müssen. Deshalb gibt es eine Reihe kleiner japanisher und russischer Zeitschriften, in denen eben kaum wichtige Ergebnisse, sondern eher kürzere Veröffentlichungen erscheinen. Die meisten dieser Zeitschriften haben sicher keine große Verbreitung.

    Ich weiß jetzt nicht, wo Dein Problem mit dem arxiv liegt. Natürlich ist Monopolismus immer schlecht und es wäre ganz gut, wenn es noch einen zweiten Preprint-Server vergleichbarer Größe gäbe. Ich wollte oben aber eigentlich nur darauf hinaus, daß es in der Mathematik bereits möglich ist (und auch praktiziert wird), Veröffentlichungen auf einem zentralen Server kostenlos online zu stellen. Durch ein Gesetz, das dies verbindlich vorschreibt, würde sich also für die meisten Mathematiker gar nichts ändern.

    Anders ist das z.B. in der Medizin, wo viele Forschungsergebnisse nicht kostenfrei zugänglich sind. Das macht es vor allem für Wissenschaftler und Ärzte in Entwicklungsländern schwierig, am aktuellen Stand der Forschung teilzuhaben.

  5. #5 rank zero
    11. November 2009

    Ich habe wirklich kein Problem mit dem arXiv, nutze es als wunderbare Informationsquelle und finde es auch publikationstechnisch eine sinnvolle Ergänzung. Nur der vermittelte Eindruck, dass fast alle relevante Mathematik darauf ist, stimmt einfach nicht.

    (Natürlich kann man das soweit eingrenzen, bis es passt. Bei “90% der Topologie” schließt Du vermutlich die mengentheoretische Topologie aus, usw.).

  6. #6 Stefan
    11. November 2009

    Zu

    gängige Praxis, daß (fast) alle Preprints auf das arxiv gestellt werden

    Vermutlich ist es ähnlich wie in der Phyik, wo “all physics is on the arxiv” auch nicht stimmt: In einigen Teilgebieten sind fast alle Paper auf dem arXiv zu finden, in anderen dagegen nur ein Bruchteil.

    Tim Ingoldsby vom American Institute of Physics hat Zahlen zu den “großen” Journalen Physics Review Letters (PRL, alle Bereiche der Physik), Physical Review B (PRB, Condensed Matter), Physical Review D (PRD, Particles, Fields, Gravitation and Cosmology) zusammengestellt (PDF). Der Anteil der Paper, die auf dem arXiv eingestellt sind, ist:

    PRL: 55%
    PRB: 40%
    PRD: 97%

    Während speziell bei PRL alle Paper aus den Bereichen “Elementary Particles and Fields” auf dem arXiv zu zu finden sind, ist es im Bereich “Condensed Matter” nur die Hälfte, und für “Atomic, Molecular, & Optical Physics” (gewöhnlich als AMO abgekürzt) sogar nur ein Fünftel. Dabei fallen unter “AMO” so aktive Gebiete wie Laserkühlung, Atomfallen, BECs, Verschränkung, also eigentlich eine Menge spannende Themen, über die man auf dem arXiv dann nur sehr wenig findet.

  7. #7 rank zero
    13. November 2009

    Einen spaßigen Kommentar dazu habe ich heute von einem Bibliothekar gehört:

    “Die obige Forderung ist doch schon längst umgesetzt: Jeder kann bei Interesse die entsprechende Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek einsehen”.

    Was wieder einmal zeigt, wie unterschiedlich Sichtweisen und Verständnis des Begriffes “Open Access” sind.

  8. #8 ursel
    16. November 2009

    Bitte keine Werbung

  9. #9 Thilo Kuessner
    19. April 2010
  10. #10 rank zero
    21. April 2010

    Man sollte die hier initiierende SPARC aber auch deutlich als Lobbygruppe von Bibliothekaren einordnen. Für diese liegen die Vorteile klar auf der Hand: Entlastung der Haushalte, also ggf. mehr Personalmittel bei weniger Arbeit, da ja die Wissenschaftler sich im Ernstfall zum großen Teil selbst um die Archivierung bemühen müssten. Da die Bibliotheken hier im Gegensatz zu den Einzelkämpfern aus der Wissenschaft straff organisiert sind, geben sie auch inzwischen Standards vor – die im einzelnen immer aufwändiger zu erfüllen sind. Die volkswirtschaftlichen Verluste an Forschungszeit, wenn Wissenschaftler immer mehr Zeit für eigentlich bibliothekarische Aufgaben verwenden, fallen in der Open-Access-Debatte regelmäßig unter den Tisch. Dabei sollte nach kurzer Überlegung zumindest auffallen, dass es Verschwendung ist, wenn hochbezahlte Forscher Eigenarchivierung (auf welchem Repositorium auch immer) betreiben – es sind nur eben Kosten, die niemand summiert und die dem einzelnen auch (noch) nicht sonderlich zur Last fallen.

    Wer allerdings z.B. an einer Universität promoviert hat, wo schon entsprechende Zwangsvorschriften in den Ordnungen festgezurrt sind, und wochenlang damit beschäftigt war, beliebig willkürliche Formatierungswünsche von Bibliothekaren vor der Archivierung im Open-Access-Dissertationsserver zu erfüllen (immer unter Zeitdruck und mit dem Bewusstsein, am schwächeren Hebel zu sitzen – wenn man nicht kuscht, gibt’s halt keinen Abschluss!) – der könnte solche Petitionen auch als Kampf zu Lasten der Wissenschaft begreifen und nicht uneingeschränkt begrüßen.

    Publikation und Archivierung sind Dienstleistungen, die gewisse Kosten haben. Diese Dienstleistung sollten möglichst effizient erbracht werden, von Leuten, die dafür ausgebildet und spezialisiert sind; die Kosten sollten gedeckt werden. Überzogene Preise sind Folge von schädlichen Monopolen. Diese Marktsituation wird sich nicht verbessern, wenn man die kleinen Verlage mit schlecht ausbalancierten Initiativen kaputt macht – die großen (wie gerade Elsevier) können sich kraft Marktmacht z.B. durch Verlagerung der Kosten auf die Autoren darauf viel besser einstellen.

  11. #11 Thilo Kuessner
    22. April 2010

    Wer allerdings z.B. an einer Universität promoviert hat, wo schon entsprechende Zwangsvorschriften in den Ordnungen festgezurrt sind, und wochenlang damit beschäftigt war, beliebig willkürliche Formatierungswünsche von Bibliothekaren vor der Archivierung im Open-Access-Dissertationsserver zu erfüllen (immer unter Zeitdruck und mit dem Bewusstsein, am schwächeren Hebel zu sitzen – wenn man nicht kuscht, gibt’s halt keinen Abschluss!)

    Solche Erfahrungen habe ich jedenfalls nicht gemacht und kann mich auch nicht erinnern, davon gehört zu haben. Nach meiner Erinnerung (bin mir aber nicht mehr 100% sicher) muß man sich um die Archivierung auch erst kümmern, wenn das Verfahren abgeschlossen ist.