Darf ein Autor die Veröffentlichung seines Werks verbieten?
Darüber ist in den letzten Wochen eine Debatte entbrannt, nachdem A. Grothendieck sein Veto gegen die Online-Veröffentlichung von SGA eingelegt hat.
SGA ist eines der einflußreichsten mathematischen Werke des letzten Jahrhunderts. Unter dieser Abkürzung verbergen sich Aufzeichnungen verschiedener Autoren, die aus Grothendiecks “Seminaire de Geometrie Algebrique” in den 60er Jahren hervorgegangen sind. Sie wurden (als maschinengeschriebene Manuskripte in 7 Bänden) in den 70er Jahren vom Springer-Verlag veröffentlicht und bilden heute die theoretische Grundlage für wichtige Teile der Algebra und Algebraischen Geometrie. (Da das nicht mein Gebiet ist, kann ich nicht viel zum Inhalt sagen. Ein paar Schlagworte findet man im Wikipedia-Artikel.)
Nach einer Auseinandersetzung mit dem Springer-Verlag hatte Grothendieck eine Neuauflage der Springer-Bände untersagt. (Natürlich stehen die alten Bände trotzdem noch in vielen Universitäts-Bibliotheken.) Die damaligen Veröffentlichungen (Schreibmaschine und handgeschriebene Formeln) sind heute natürlich nicht mehr zeitgemäß. Die Wikipedia schreibt dazu:
In the 1990s it became obvious that the lack of availability of the SGA was becoming more and more of a problem to researchers and graduate students in algebraic geometry: not only are the copies in book form too few for the growing number of researchers, but they are also difficult to read because of the way they are typeset (on an electric typewriter, with mathematical formulae written by hand). Thus, under the impetus of various mathematicians from several countries, a project was formed of re-publishing SGA in a more widely-available electronic format and using LaTeX for typesetting; also, various notes are to be added to correct for minor mistakes or obscurities. The result should be published by the Société Mathématique de France. Legal permission to reprint the works was obtained from every author except Alexander Grothendieck himself, who cannot be contacted;
Jedenfalls sind in den letzten 10 Jahren größere Teile von SGA von verschiedenen Mathematikern geTeXt und damit in eine lesbare Form gebracht worden, diese Teile sind/waren im Internet frei erhältlich.
Am 3.1. hat nun Grothendieck eine Erklärung verbreiten lassen, mit der er diese Aktivitäten untersagt:
https://tqft.net/misc/Grothendieck’s Declaration (original).pdf
Als Konsequenz hat Prof. Laszlo die bisher geTeXten Teile von SGA 4 vom Netz genommen.
Eine (für ein Mathematik-Thema ungewöhnlich leidenschaftliche) Debatte mit bisher 160 Beiträgen dazu findet man auf sbs. Einige Zitate:
Obi Rej: his letter is truly puzzling. I, for one, thought that Grothendieck was all about freeing mathematics completely from institutional control (cf. his preface/tirade against the IH\’ES in SGA I.) The public and \emph{noncommerical} distribution of his work over the web should please him.
On the other hand, a few years ago in Paris, I did see SGA I being sold as a hardcover (at Gibert-Josef) for a substantial chunk of change (retyped in Latex with nice paper). May be he is lashing out against such things? In any case, I wish the man, as great as he may be, stops being so combative all the time. Didn’t he go around (cf. Grothendieck-Serre correspondence) complaining to people that no body read him any more? And now that people are devoting entire websites to his work, he complains? Can somebody (Cartier maybe?) talk to him personally and explain all this?
Emmanuel Kowalski: I remember ‘Récoltes et semailles’ containing long complaints about what Grothendieck saw as unethical exploitation of his ideas by some of his students and disciples as tools to further their own careers and reputations, when (as he saw it) they should instead have shared those ideas as freely as he had. So I can imagine (though, of course, I don’t know if it’s the case) that he would refuse that his unpublished works be used in the same manner…
Lohengrin: It is all Illusie’s fault. 🙂 Why did he make the letter public? First, it is a private letter and Illusie is under no obligation to make it public. Second, Grothendieck’s very letter states that none of his private letters, including this very letter, should be published. As mathematicians, Illusie should have know Russel’s Paradox. Third, by making it public, it deprives the math community a more readable version of SGA.
Illusie should have simply spread some rumor about this, so we can all go to Laszlos’ page and copy down every thing before he shut it down. Shame on Illusie, says Grothendieck. 🙂
GS: Grothendieck took algebraic geometry as it was in the hands of the geometers in Italy, Zariski, Weil, Serre, etc., and formed it to a different shape and gave it to math community. Then it stabilized after decades. And now he wants nobody to use SGA, etc..
This is like you taking a partially worked clay from your friend, work it fully, wait until everything dries and hardens, and you declare to your friend, “No, you cannot use my work anymore. If you want, go back to the old situation and start over.”
Unreasonable, I would say.
Eine interessante Debatte, die natürlich stark an Diskussionen über Franz Kafka und Max Brod erinnert. (Die Kafka-Brod-Geschichte wird zum Beispiel von Milan Kundera in “Verratene Vermächtnisse” aufgegriffen.)
Kafka galt bei seinem Tod 1924 eher als Geheimtip, einem breiteren Publikum auch innerhalb der Literaturszene kaum bekannt. Er hatte testamentarisch bestimmt, daß nur 3 Erzählungen (Das Urteil, Die Verwandlung, In der Strafkolonie) und noch 3 Sammmlungen kürzerer Texte veröffentlicht werden sollen. Die restlichen Schriften sollten verbrannt werden.
“Max Brod, der von Kafka mit diesem ausdrücklichen Auftrag zum Testamentsvollstrecker bestimmt worden war, edierte dennoch die nachgelassenen Schriften des Freundes. Kafka hatte gewußt, daß die Wahl dieses Vollstreckers die Vollstreckung eher verhindern würde; Brod hatte seinen Widerstand offen bekundet.
Einige Jahre später rettete Brod Kafkas Texte erneut, diesmal vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten: Er nahm die Handschriften bei seiner Emigration nach Palästina mit.“(zitiert aus Serrer: “Franz Kafka”).
Sicherlich ein vergleichbarer Fall, auch was die Bedeutung des Werks (für die Literatur resp. die Mathematik) angeht.
Kundera kommt in seinem Essay übrigens zu dem Schluß, Brod hätte Kafkas zur Vernichtung bestimmte Manuskripte verbrennen sollen. (Obwohl er offensichtlich einige davon für sehr bedeutend hält.)
Natürlich kann man (gegen Brods Position) auch einwenden, daß viele nachträgliche Kafka-Interpretationen kaum der Intention des Verfassers entsprechen dürften. (Ein Problem, das in der Mathematik sicher eine geringere Rolle spielt.) Zum Beispiel wurde Kafkas Werk ja in Deutschland gerade in den 50er Jahren populär, aus naheliegenden Gründen: Kafkas Erzählungen, in denen das Verhängnis schicksalhaft und ohne erkennbare Ursache über die Menschen kommt, paßten gut ins damalige Geschichtsbild. Serrer schreibt: “Die damaligen Leserinnen und Leser empfanden die Texte Kafkas als Beschreibung ihrer eigenen Situation in der Nachkriegszeit. Man sah von den konkreten historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Umständen ab, unter denen das Werk entstanden war, und wollte ihm überzeitliche Wahrheiten entnehmen. Max Brods theologische Deutung der Bücher seines Freundes fand weiten Anklang.” Man darf (nicht zuletzt mit Blick auf das Schicksal von Kafkas Familie) sicher bezweifeln, ob er einer solchen Interpretation zugestimmt hätte. Paradoxerweise löste 1946 die Wochenzeitung der KPF mit der Frage “Faut-il bruler Kafka?” (also: ob man Kafkas Werke verbrennen solle) eine monatelange Debatte aus. Dabei ging es aber wohl nicht um Fragen des Urheberrechts…
Im Fall von SGA muß man postume Miß-Interpretationen sicher weniger fürchten. Und auch in einer anderen Hinsicht hinkt der Vergleich: Grothendiecks Werk und SGA stehen bereits in vielen Bibliotheken und vor allem sind sie in den letzten Jahrzehnten bereits dermaßen stark in die Mathematik “diffundiert”, daß man den Stoff heute vermutlich genausogut aus der “Sekundärliteratur” wie aus dem Original lernen kann.
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