Ruelle erklärt Grothendieck
Algebra und Geometrie hängen schon immer eng zusammen: reelle Zahlen wie π oder die Quadratwurzel aus 2 kommen in geometrischen Fragestellungen vor, bis zum 19. Jahrhundert faßte man reelle Zahlen als Verhältnis von Streckenlängen auf,
umgekehrt “hat uns Descartes gezeigt, wie euklidische Geometrie mit Hilfe reeller Zahlen funktioniert”, nämlich durch Einführung eines Koordinatensystems. Geometrische Gebilde lassen sich dann durch Gleichungen beschreiben, z.B. beschreibt x+y+z=0 eine Ebene oder x2+y2+z2=1 eine Sphäre.
Die Idee, Kurven als Gleichungen darzustellen, hat sich als sehr fruchtbar erwiesen und zur Begründung der sogenannten algebraischen Geometrie geführt.
Algebraische Geometrie befaßt sich speziell mit den Kurven (und höherdimensionalen Gebilden), die sich als Lösungsmenge von Polynomen beschreiben lassen.
Kegelschnitte zum Beispiel lassen sich durch quadratische Polynome wie
y – x2 = 0 (Parabel)
oder x2 + y2 – 1 = 0 (Kreis)
oder x2 – y2 – 1 = 0 (Hyperbel) beschreiben.
Zum Beispiel kann man mit algebraischen Methoden (Satz von Bezout) beweisen, daß sich zwei Kegelschnitte in höchstens 4 Punkten schneiden.
Um eine konsistente Theorie zu bekommen, ist es günstiger, nicht nur reelle Koordinaten, sondern Punkte mit komplexen Koordinaten zu betrachten. (Zum Beispiel bekommt man damit eine einheitlichere Theorie der Kegelschnitte, auch der Beweis zum Satz von Bezout benutzt komplexe Zahlen.) Außerdem betrachtet man nicht nur Kurven, sondern auch höherdimensionale Gebilde, und man führt noch zusätzliche ‘Punkte im Unendlichen’ ein – man erhält so den Begriff der (projektiven) algebraischen Varietät.
Soweit handelt es sich um klassische Mathematik, der Satz von Bezout zum Beispiel stammt aus dem Jahr 1779. Ruelle versucht nun, die grundlegenden neuen Beiträge von Alexander Grothendieck zur Algebraischen Geometrie zu beschreiben:
An dieser Stelle möchte ich von der Algebraischen Geometrie zu etwas anscheinend völlig anderem springen: der Arithmetik. […] Arithmetik ist im Grunde die Untersuchung ganzer Zahlen, und eines ihrer zentralen Probleme besteht in der Lösung polynomialer Gleichungen (etwa p(x,y,z)=0, wobei etwa p(x)=xn+yn-zn sein könnte) mithilfe ganzer Zahlen. […] Lassen sich also Algebraische Geometrie und Arithmetik vereinheitlichen? Tatsächlich trennen tiefgreifende Unterschiede die beiden Gebiete, da die Eigenschaften ganzer Zahlen sich stark von denen komplexer Zahlen unterscheiden. Ist nämlich p(z) ein Polynom in einer Variablen z, so wird es stets einen komplexen Wert von z geben, bei dem p(z)=0 ist. (Diese Tatsache kennt man als den Fundamentalsatz der Algebra.) Nichts dergleichen trifft jedoch auf die ganzen Zahlen zu. (Sehr) langer Rede kurzer Sinn: Die Vereinheitlichung von algebraischer Geometrie und Arithmetik ist möglich, aber nur um den Preis umfangreicher Grundlagenarbeit. Die algebraische Geometrie muß auf einer (weitaus) allgemeineren Grundlage neu entwickelt werden – und hierin bestand Alexander Grothendiecks großes Vorhaben.
Die weitere Darstellung dieser neuen Methoden bleibt in Ruelles Buch dann natürlich (unvermeidlich) etwas vage. Er beschreibt in groben Zügen die Theorie der Schemata und Anwendungen wie die Weil-Vermutungen oder die Entwicklungen, die letztlich zum Beweis des Satz von Fermat führten.
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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