In Kapitel 10 geht es eigentlich um schriftliche Arbeiten, zunächst aber um mündliche Vorträge (Vorlesungen, Seminare, Kolloquien):

Ein Philosoph sitzt vielleicht an einem Tisch und trägt einen gewissenhaft vorbereiteten Text vor. Ein Physiker verwendet vielleicht einen Computer, um einige bunte Bilder und Text, möglicherweise in animierter Form, zu zeigen. Der Mathematiker hingegen fühlt sich dem traditionellen Einsatz von Kreide und Tafel (oder von harmlosen Abwandlungen derselben wie Marker und Weißwandtafel) verbunden. Diese Konstellation hat den Vorteil, daß sie die Informationsmenge einschränkt, welche das Publikum pro Zeiteinheit aufnimmt.

Eigentliches Thema sind dann aber mathematische Texte, also Bücher und Artikel, und ihre drei Komponenten: Abbildungen, Sätze und Formeln.

Abbildungen

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Copyright K.Polthier, M.Schmies, M.Steffens, C.Teitzel
aus dem Video “Introduction to Geodesics”

Ruelle erläutert, warum Abbildungen häufiger in mündlichen Präsentationen verwendet werden als in Zeitschriften-Artikeln. Zum Beispiel würde man den Satz “Wir betrachten eine geodätische Krümmung, die die beiden Punkte A und B einer Riemannschen Mannigfaltigkeit verbindet.” in einem Vortrag mit einem an die Tafel gezeichneten Bild ergänzen. “In einem mathematischen Artikel stünde der Satz ohne eine Abbildung da und doch hätten viele Leser ein Bild vor ihrem geistigen Auge.”

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, daß sich gerade in diesem Kapitel, in dem es um die Bedeutung der Sprache geht, einige sinnentstellende Übersetzungsfehler eingeschlichen haben, so wie der eben zitierte eigenartige Satz “Wir betrachten eine geodätische Krümmung, die die beiden Punkte A und B einer Riemannschen Mannigfaltigkeit verbindet.” Ich bin mir ziemlich sicher, daß da im Original von “geodesic curve” die Rede war, was man mit “geodätische Kurve” oder besser nur mit “Geodäte” übersetzen sollte. Den Begriff “geodätische Krümmung” gibt es in der Mathematik zwar auch, er bedeutet aber etwas ganz anderes und gibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn. (Warum ist es eigentlich nicht möglich, Übersetzungen populärwissenschaftlicher Bücher für 50 Euro von einem Studenten korrekturlesen zu lassen?)

Eine “faszinierende Frage”, auf die Ruelle aber nicht genauer eingeht, ist die “nach der Unterschiedlichkeit der inneren Bilder von mathematischen Objekten, die Mathematiker sich machen”.

Sätze

Die Rolle der Sprache in der Mathematik ist eine andere als in der Lyrik.

Wenn Sie zweisprachig sind und mit einem ebensolchen Kollegen einen Gedanken erörtern, werden Sie sich später vielleicht an das mathematische Thema des Gesprächs erinnern, nicht aber an die Sprache, in der es geführt wurde.

Andererseits bringt er Beispiele dafür, daß sich Gedichte nicht überzeugend in andere Sprachen übertragen lassen.

Bei der Gelegenheit paßt es, mal etwas zur Sprache dieses Buches zu sagen. Beim Lesen mathematischer Prosa fällt auf, daß sich französische, deutsche und englische Texte stark unterscheiden und daß es nicht so einfach ist, französische Texte wörtlich ins Deutsche zu übersetzen. Mir scheint, daß es dieses Problem auch bei der Übersetzung dieses Buches gegeben hat (wobei ich mir das englische Original nicht angesehen habe). Was im Französischen elegant und fast kunstvoll wirkt, wirkt bei wörtlicher Übersetzung ins Deutsche eher etwas langatmig und unbeholfen. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Übersetzung mehr dem deutschen Sprachstil anzupassen. (Anderseits hätten die Übersetzer damit natürlich ihren eigenen Sprachstil dem Autor aufgestülpt. Wirklich eine schwierige Frage. Von Milan Kundera ist bekannt, daß er seine tschechischen Bücher selbst ins Französische übersetzte, weil er mit den französischen Übersetzern nicht zufrieden war. Da ging es freilich um das entgegengesetzte Problem: ihm gefiel der barocke Stil der französischen Übersetzungen nicht.)

Formeln

Mathematische Sätze sind “mit Formeln durchsetzt” und die meisten Mathematiker ziehen Formeln einer verbalen Beschreibung vor. Statt “t minus a durch b minus t geteilt durch … ist gleich …” liest man lieber

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(aus dem Wikipedia-Artikel zum “Doppelverhältnis”).

Man kann sich Formeln visuell merken und man kann sie mit geringem Aufwand und geringem Fehlerrisiko umformen.

Mit der systematischen und einfachen Modifikation von Formeln hat die moderne Mathematik den geistigen Werkzeugen der antiken Griechen eine wichtige Erweiterung voraus.

Anderseits führt es schnell zu einem “unverständlichen Durcheinander”, wenn man nur Formeln und keine natürliche Sprache verwendet.

Die wirkungsvolle Vermittlung mathematischer Inhalte an Menschen hängt von einer glücklichen Hand bei der Entscheidung ab, was man mit Formeln und was mit Worten (die sich auf ungeschriebene Formeln beziehen) ausdrücken will.

(Ein Beispiel, wie sich das oben durch eine Formel angegebene Doppelverhältnis mit relativ wenigen Formeln diskutieren läßt, ist Labourie’s Artikel “What is a cross ratio?”)

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