In Kapitel 11 geht es nicht um mathematische Realität, sondern um Beziehungen der Mathematik zur menschlichen Natur und Gesellschaft,

also um die Motive, “warum Menschen sich mit mathematischer oder allgemein mit wissenschaftlicher Forschung befassen”: Geld, Ruhm, Mangel an Fantasie, Erziehung, Machtstrukturen und Anpassungsdruck. Die letzten beiden Punkte diskutiert er dann ausführlicher am Thema ‘Ehrungen und Preise’. Er berichtet über eigene Erfahrungen in der Pariser Académie des Sciences und über die wichtigsten Mathematik-Preise.

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Einen Nobelpreis für Mathematik gibt es nicht, und ich erinnere mich an eine Zeit in den 1960er- und 70er-Jahren als Mathematiker darüber ziemlich froh waren. Die Qualität der Mathematik wurde nicht in Millionen US-Dollar gemessen und Mathematiker nicht mit Footballspielern verglichen. In der Mathematik gibt es die relativ renommierte Fields-Medaille, die jedoch nur an Mathematiker unter 40 Jahren verliehen wird und auch nur geringfügigen finanziellen Wert besitzt (anders als der Nobelpreis für Physik, der etwa eine Milion Dollar wert ist). Soweit ich mich erinnern kann, war die Verleihung der Fields-Medaille an René Thom und Alexander Grothendieck keine allzu große Sache. (René Thom war einmal leicht verärgert, weil seine Frau Suzanne seine Fields-Medaille verlegt hatte und die Auszeichnung unauffindbar war.)

Der Vollständigkeit halber sollte man erwähnen, daß Ruelle selbst eine Reihe bedeutender Preise erhalten hat, u.a. die Boltzmann-Medaille, den Poincaré-Preis und den Heineman-Preis für theoretische Physik.

(Bekannte Beispiele politischer Einflußnahmen auf die Entscheidung des Fields-Medaillen-Komitees sind die Nicht-Berücksichtigung von Vladimir Arnold 1974 oder Michael Gromov 1982/83.)

Neben der Fields-Medaille gibt es seit 2003 noch den Abelpreis und es gibt seit 2000 den Millenium-Preis, das sind 7 Probleme, auf deren Lösung jeweils 1 Million Dollar ausgesetzt ist. Ruelle äußert sich ziemlich reserviert zu diesem Preisgeld: die Million für die Riemann-Vermutung liege “auf jeden Fall weit unter dem bei Golf, Tennis oder Autorennen geltenden Tarif”, in den Fußnoten weist er darauf hin, daß (im Sport) “die Herrschaft des Geldes den Einsatz von Medikamenten und Betrug fördert […] und erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die korrumpierende Wirkung des Geldes vielleicht auch die Mathematik auf Dauer nicht verschonen wird.”

In den nächsten Kapiteln geht es dann wieder um Mathematik.

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik