Wenn die Riemann-Vermutung nicht entscheidbar ist, dann ist sie wahr.
Die heutige Mathematik baut auf ZFC auf, das sind die Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre zusammen mit dem Auswahlaxiom. Gödel hat bewiesen, daß das Auswahlaxiom nicht im Widerspruch zu den Axiomen der Mengenlehre steht und die Mehrheit der Mathematiker meint, daß man mit dem Auswahlaxiom “reichere, interessantere Mathematik” bekommt als ohne Auswahlaxiom. (Zum Beispiel braucht man das Auswahlaxiom, um den Satz von Hahn-Banach zu beweisen, der für viele Sätze der Analysis gebraucht wird.)
Andererseits hat das Auswahlaxiom auch unplausible Konsequenzen wie das Banach-Tarski-Paradox:
man kann die Sphäre in Stücke zerlegen kann, die anders zusammengesetzt paradoxerweise zwei Sphären derselben Größe ergeben.
Das ist scheinbar absurd, weil sich der Flächeninhalt ja nicht einfach verdoppeln kann. Die einzelnen Stücke sind aber nicht meßbar, ihr Flächeninhalt läßt sich nicht berechnen. Aus dem Auswahlaxiom folgt letztlich also, daß nicht alle Mengen meßbar sind.
Manche der Probleme, mit denen sich die Mathematiker in den vergangenen hundert Jahren auseinandergesetzt haben, konnten zufriedenstellend gelöst werden, dazu gehören der Beweis des großen Fermat’schen Satzes oder die Klassifikation endlicher einfacher Gruppen. Für diese Erfolge waren sehr lange Beweise erforderlich. (Wenn wir an Gödels Ergebnisse hinsichtlich der Länge von Beweisen denken, die im vorhergehenden Kapitel zur Sprache kamen, verwundert dies nicht allzu sehr.) Manche Probleme sind, wie bewiesen wurde, logisch unentscheidbar: Dies gilt für Hilberts zehntes Problem zur Lösbarkeit diophantischer Gleichungen. Manche Probleme wiederum sind noch völlig offen, dazu gehört die Riemann’sche Vermutung.
Bei der Riemann-Vermutung geht es um die Nullstellen der Zetafunktion (und letztlich um die Verteilung der Primzahlen). Die Zetafunktion hat ‘triviale’ Nullstellen -2,-4,-6,… und außerdem viele Nullstellen auf der Gerade 1/2+it (t reell), wie das folgende Video (wo der Graph des Betrages der Zetafunktion über der komplexen Zahlenebene aufgetragen wird) zeigt:
Die Riemann-Vermutung besagt, daß es darüber hinaus keine weiteren Nullstellen gibt.
Warum interessiert man sich für die Riemann-Vermutung?
Aus der Hypothese ergeben sich detaillierte Resultate zu Primzahlen, die anscheinend auf keinem anderen Weg zu erzielen sind und doch als wahr gelten. Ein zweiter Grund für unser Interesse an der RV besteht darin, dass sie außergewöhnlich schwer beweisbar scheint. Der letzte und wichtigste Grund ist, dass die RV mit tief greifenden strukturellen Fragen verknüpft ist. Insbesondere in den Weil-Vermutungen (die hier bereits zur Sprache kamen und von Grothendieck und Deligne bewiesen worden sind) steckt ein Gedanke, der mit der Riemann’schen Vermutung in Verbindung steht, dies aber in einem Rahmen, der mit der RV offensichtlich nichts zu tun hat.
Wenn die Riemann-Vermutung falsch wäre, dann ließe sich das durch Finden einer unvorhergesehenen Nullstelle beweisen.
Das heißt: wenn die Riemann-Vermutung unentscheidbar (und ZFC widerspruchsfrei) wäre, dann muß die Riemann-Vermutung wahr sein. Also braucht man eigentlich nur zu beweisen, daß die Riemann-Vermutung unentscheidbar ist 🙂
Saharon Shelah hat in “Logical Dreams” den Traum formuliert
zu beweisen, dass die Riemann’sche Vermutung in PA nicht beweisbar ist, dafür aber in einer höheren Theorie.
PA steht für Peano-Arithmetik, ein schwächeres Axiomensyste als ZFC. Wenn PA widerspruchsfrei ist, dann würde aus Shelah’s Traum folgen, daß die Riemann-Vermutung unentscheidbar und deshalb (siehe oben) wahr ist.
Mathematische Logik (“Metamathematik”) könnte also zu neuen Erkenntnissen führen, die beim Arbeiten innerhalb eines Axiomensystems (ZFC oder PA) übersehen werden.
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
Kommentare (5)