Früher war alles besser – oder zumindest einfacher.
Über diese Welt im Wandel konnte ich mich einmal mit Shiing-Shen Chern unterhalten, einem der großen Vertreter der Geometrie des 20. Jahrhunderts. Er beschrieb mir, wie er seine eigene, eigenständige Arbeit aufnehmen konnte, als er zu Beginn seiner Karriere die Arbeit von Heinz Hopf über die Hopf-Faserungen las und sich an der Grenze der damaligen Mathematik wiederfand. Nun sind Hopfs Gedanken wundervoll, aber relativ leicht zu untersuchen. Im beginnenden 21. Jahrhundert ist es in der Regel deutlich schwieriger, an die Grenze der Mathematik vorzustoßen. Allein die Vorstellung, neben anderen die Ideen Grothendiecks bezwingen zu müssen, wenn man in der algebraischen Geometrie und der Arithmetik arbeiten will!
Hopffaserung – Copyright Dimensions
Ruelle berichtet, daß in den 60er Jahren Mathematiker kritisiert wurden, wenn sie Ergebnisse von Kollegen verwendeten, ohne sie selbst überprüft zu haben. Deligne meinte in den 70ern, ihn interessiere Mathematik, die er selbst bis ins letzte Detail nachvollziehen könne, keine computergestützten oder extrem langen Beweise. Computergestützte oder extrem lange Beweise sind heute aber alltäglich geworden.
Ruelle diskutiert in diesem Zusammenhang einen Zerfall “moralischer Werte” in der Mathematik. Insbesondere erwähnt er einen Artikel von Jaffe-Quinn und die Debatte über Thurstons Beweis der Geometrisierungs-Vermutung für Haken-Mannigfaltigkeiten:
Thurstons Programm beanspruchte damit ein großes Gebiet der Mathematik, ohne dabei allerdings Beweise zu liefern, welche von Kollegen überprüft werden könnten. Letztlich erschwerte er anderen Mathematikern das Arbeiten in diesem Bereich: Man erntet keine großen Lorbeeren für den Beweis eines bereits formulierten Theorems […]
Hier muß man vielleicht ergänzen, daß das so nicht zutrifft. Die Mathematiker, die vollständige Beweise zu Thurstons Theoremen ausarbeiteten, haben damit durchaus Lorbeeren geerntet: McMullens Ausarbeitung eines fehlenden Details im Beweis für Haken-Mannigfaltigkeiten erschien 1990 in “Inventiones Mathematicae” (und brachte ihm 1998 die Fields-Medaille), Otals Beweis wurde in “Asterisque” veröffentlicht. Bonahons Habilitation, in der “nur” 2 Kapitel aus Thurstons Vorlesung aufgearbeitet wurden, erschien als 87-seitiger Artikel in den renommierten “Annals of Mathematics”, auch z.B. der Beweis des Orbifold-Satzes wurde in “Annals of Mathematics” veröffentlicht etc.pp.
Es gibt übrigens eine Erwiderung von Thurston auf den Jaffe-Quinn-Artikel. Er führt dort aus, daß seine früheren Arbeiten über Blätterungen, z.B. der (vollständige) Beweis des Existenzsatzes, dieses Gebiet ‘getötet’ hätten in dem Sinne, daß diese Fragen damit beantwortet und abgeschlossen waren und kein forschender Mathematiker sich mehr mit seinem Beweis beschäftigte. Dagegen habe er später bei der Geometrisierungsvermutung keine vollständigen Beweise mehr aufgeschrieben(“By concentrating
on building the infrastructure and explaining and publishing definitions and ways of thinking but being slow in stating or in publishing proofs of all the “theorems” I knew how to prove, I left room for many other people to pick up credit.”) und damit erreicht, daß dieses Thema sich zu einem sehr aktiven Forschungs-Gebiet entwickelte.
W.Thurston: On proof and progress in mathematics
(Vgl. dazu auch David Corfield: “Wittgenstein and Thurston on understanding” mit weiteren Links.)
Außerdem diskutiert Ruelle in diesem Kapitel noch die Rolle von Computern in der mathematischen Forschung.
Zum einen natürlich auf einer heuristischen Ebene: “Riemann nahm lange Berechnungen von Hand vor, um einige Gedanken zu überprüfen; sicherlich hätte er sich gefreut, einen schnellen Computer zur Hand zu haben.” Auch Ruelle selbst hatte in seiner Arbeit mit Eckmann über seltsame Attraktoren Computer-Experimenten benutzt.
Zum anderen für rigorose Beweise: exakte Berechnungen mit ganzen Zahlen, Programmierung logischer Operationen wie beim Beweis des 4-Farben-Satzes, und exakte Berechnungen mit reellen Zahlen mittels Intervallarithmetik: als Beispiel erwähnt er eine unveröffentlichte Arbeit von Oscar Lanford, in der mit Intervallarithmetik (und einem 200 Seiten langen Computercode) bewiesen wird, daß bestimmte unendlich-dimensionale Mannigfaltigkeiten sich transversal schneiden.
Mit der zunehmenden Länge der Beweise wird auch das Problem der Fehler in der Mathematik immer schwerwiegender, ganz gleich, ob nun Computer verwendet werden oder nicht.
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