Zufall und Evolution.

In Kapitel 20 geht es zunächst um die Ziele mathematischer Forschung und die Frage, was interessante Mathematik ausmacht.

Wie erzeugt man Zeichensequenzen, die von Bedeutung sind? Dafür gibt es i.W. 2 Möglichkeiten:
a) die Möglichkeit der Auswahl nach dem Zufallsprinzip und
b) das Herumprobieren oder auch “Tinkering”.

Die Idee vom zufälligen Umherwandern mit einer Tendenz in Richtung eines wachsenden Interessantheitsgrades führt uns zum Konzept des Herumprobierens, mit dem englischen Begriff auch “Tinkering” genannt, das der Biologe Francois Jacob in Verbindung mit der biologischen Evolution geprägt hat.

Bei Francois Jacob geht es unter anderem um die Evolution der Proteine. Ruelle erklärt diese Theorie recht ausführlich im Detail und stellt dann (nach Aharon Kantorovich) Vergleiche zur Entstehung wissenschaftlicher Entdeckungen an:

Francois Jacob beschreibt die biologische Evolution als einen allgemeinen Prozess des Herumprobierens. Im Verlauf dieses Prozesses können aus bereits vorhandenen Proteinen neue, nützliche Proteine hervorgehen oder aus einem Bein wird ein Flügel, aus einem Stück Kiefer ein Teil eines Ohrs und so weiter. Man könnte den Prozess des Tinkering in der biologischen Evolution als geistlos bezeichnen, dennoch ist er außergewöhnlich erfolgreich. Ein menschlicher Erfinder wäre nicht imstande, so wunderbare Produkte der Evolution wie eine Stechmücke oder ein menschliches Gehirn zu entwerfen. Gleichzeitig aber würde ein menschlicher Erfinder vielleicht manche Vorgehensweisen der Evolution vermeiden, die unklug erscheinen (wie die punktuelle Zusammenführung des Wegs, den die Nahrung vom Mund in den Magennimmt, mit dem Weg der Luft von der Nase in die Lunge).

Der (von Aharon Kantorovich entwickelte) Gedanke, dass das Herumprobieren neben der biologischen Evolution auch bei wissenschaftlichen Entdeckungen eine Rolle spielt, liegt auf der Hand. Insbesondere gilt dies für die Konstruktion mathematischer Theorien, bei der man in der Hoffnung, auf etwas Interessantes zu stoßen, vorhandene Konzepte nach dem Zufallsprinzip variiert. Oder man kombiniert die Fakten, die man kennt, auf unterschiedliche Weise, bis man ein wertvolles Ergebnis erhält. Dies ist die Verknüpfung von Gedanken, die sich unbewusst vollziehen kann und die Henri Poincaré und Jacques Hadamard für uns beschrieben haben.

Natürlich aber ist das willkürliche Kombinieren von Ideen nur ein Teil der Geschichte. Mathematiker, die in einem bestimmten Bereich der Mathematik arbeiten, haben eine exakte Vorstellung von den Strukturen, die in diesem Bereich eine Rolle spielen, und werden auf der Grundlage dieser strukturellen Vorstellungen zum Teil durchaus systematisch vorgehen.

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik

Kommentare (3)

  1. #1 Frank Wappler
    9. Juli 2010

    Manchem, der sich darauf freut, bald wieder auf einen Kirschbaum zu klettern, sich die reifen Früchte schmecken zu lassen und die Kirschkerne weit weg zu spucken, dürfte die punktuelle Zusammenführung des Wegs, den die Nahrung vom Mund in den Magen nimmt, mit dem Weg der Luft von der Nase in die Lunge [und wieder heraus] so unklug gar nicht vorkommen …

  2. #2 Webbaer
    11. Juli 2010

    Apropos tinkering, spielt der Einsatz von Großrechenanlagen hier eine Rolle?

    MFG
    Wb

  3. #3 Thilo Kuessner
    11. Juli 2010

    Das wäre natürlich auch noch eine Idee: einfach mit Großrechnern alle Zeichenfolgen (oder alle Änderungen eines bereits vorhandenen Textes) durchprobieren und dann schauen, wann eine bessere Theorie herauskommt. Man müßte nur vorher dem Rechner beibringen, woran er erkennt, welche Theorien besser sind.

    (Bei Schachcomputern funktioniert das auch – aber da lassen sich Kriterien zur Stellungsbewertung auch relativ einfach formulieren.)