Herr Schildkröte sagt, daß kein hinreichend mächtiger Plattenspieler in dem Sinn vollkommen sein kann, daß er jeden möglichen Ton auf einer Platte widergeben kann. Gödel sagt, daß kein hinreichend mächtiges formales System in dem Sinn vollkommen sein kann, daß es jede einzelne wahre Aussage als einen SATZ widergeben kann. Wie Herr Schildkröte aber im Hinblick auf Grammophone betont, kommt einem das nur dann als Mangel vor, wenn man unrealistische Erwartungen darüber hegt, was formale Systeme leisten sollten. (aus “Gödel, Escher, Bach”)
Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, also die Tatsache, daß es mathematische Sätze gibt, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen, wurde am 22.10.1930 erstmals von Gödels Doktorvater Hans Hahn auf der Tagung der Wiener Akademie der Wissenschaften vorgestellt (Gödel hatte dazu schon am 6.9. in Königsberg einen wenig beachteten Vortrag gehalten), erschienen ist der Artikel “Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I” dann 1931 in “Monatshefte für Mathematik und Physik”:
In der Öffentlichkeit ist dies vielleicht der bekannteste mathematische Satz des 20.Jahrhunderts, auch die bekannte BBC-Serie “Story of Maths” hat natürlich eine Episode dazu:
Es fällt auf, daß die “Story of Maths”- Folge zum 20.Jahrhundert fast ausschließlich der Logik gewidmet ist (inkl. der Anwendung auf Hilberts 10.Problem über diophantische Gleichungen) und daß von der aktuellen Mathematik neben der Logik nur noch die algebraische Geometrie in Teil 5/4 vorkommt. Während man als “arbeitender Mathematiker” den Unvollständigkeitssatz zwar kennt, aber eigentlich nie benutzt, gilt er den Fernseh-Machern (und vielen mathematischen Laien) offenbar als bedeutendster mathematischer Satz des 20.Jahrhunderts.
Tim Gowers formuliert es im Vorwort zu “Mathematics: A very short introduction” so:
I do presuppose some interest on the part of the reader rather than trying to drum it up myself. For this reason I have done without anecdotes, cartoons, exclamation marks, jokey chapter titles, or pictures of the Mandelbrot set. I have also avoided topics such as chaos theory and Gödel’s theorem, which have a hold on the public imagination out of proportion to their impact on current mathematical research
(Die Mandelbrotmenge spielt übrigens durchaus eine Rolle in der theoretischen Mathematik, einige Bezüge werden in diesem populärwissenschaftlichen Artikel von Tom Leinster hergestellt.)
Auf die mathematische Grundlagenforschung hat der Unvollständigkeitssatz jedenfalls wenig Einfluß gehabt – die entwickelt sich trotz der unklaren Grundlagen stetig weiter, auch wenn wohl die meisten Mathematiker kaum Voevodskys provokanten Thesen zur möglichen Inkonsistenz der Mathematik zustimmen würden.
Noch ein anderer Aspekt in der öffentlichen Rezeption des Unvollständigkeitssatzes ist die häufige Verwendung als Argumentationshilfe durch Astrologen oder Homöopathen etwa in der Art, man könne ihre Theorien wegen des Unvollständigkeitssatzes weder widerlegen noch beweisen. Auch die dubiose Templeton-Stiftung hat das Thema jetzt entdeckt und kürzlich angekündigt, Millionen in die (von Mathematikern eher als Rand-Thema betrachtete) Forschung zum Unvollständigkeitssatz investieren: unter der Überschrift “Foundational Questions in the Mathematical Sciences” vergibt sie Förderungen zwischen 50.000 und 400.000 $ für Projekte zu diesem Thema. Aus der Ausschreibung:
The Foundation’s 2010 Funding Priority on “Foundational Questions in the Mathematical Sciences” focuses on two large issues in this exciting domain.
The first concerns Gödel’s Incompleteness Theorems and related developments in the mathematical sciences that remain the subject of great scholarly discussion. Stanley Jaki once argued that the theorems place strict limits on human understanding of the universe. Freeman Dyson sees them as a guarantee that there will always be new things to discover. Roger Penrose claims that they defeat the goals of artificial intelligence and show that the human mind can never be emulated by a Turing machine.
In a related vein, the Foundation also wishes to encourage scholarly inquiry into the promise and limits of artificial intelligence (AI). Three decades ago, there was huge optimism about the quest for AI. All manner of philosophical conundrums were posed in expectation of the rapid development of super-human artificial intelligence. Today, however, the subject has largely faded from public view, in part because the field encountered new problems and discovered that older ones were harder to solve than anyone imagined.
Die Wikipedia schreibt zu diesem Thema: “Obwohl Gödel sich im Laufe seines Lebens wiederholt als Platoniker zu erkennen gab, wurde sein Unvollständigkeitssatz wiederholt in einem subjektivistischen Sinn interpretiert. Auch schien Gödels Teilnahme am Wiener Kreis eine Nähe des Unvollständigkeitssatzes mit dem logischen Positivismus nahezulegen, der dem Platonismus in vielerlei Hinsicht entgegengesetzt ist. Gödels zurückhaltende, konfliktscheue Art trug dazu bei, die Fehlinterpretationen am Leben zu erhalten.”
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