In der Diskussion zum Beitrag “Unwahrscheinliches” kam die Frage auf, ob es unendlich kleine Wahrscheinlichkeiten gibt.
Die hat zwar nicht viel mit dem ursprünglichen Thema des Beitrags zu tun, ist aber vielleicht trotzdem mal von grundsätzlichem Interesse.
Endliche Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Bei im “wirklichen Leben” vorkommenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen hat man natürlich immer nur endlich viele Möglichkeiten, zum Beispiel bei 6 aus 49 gibt es 13.983.816 mögliche Ziehungen.
Jedes mögliche Ereignis hat dann natürlich eine Wahrscheinlichkeit > 0: die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser bei 6 aus 49 ist 1/13.983.816, für einen Fünfer 258/13.983.816 etc.
Das Bild zeigt eine Verteilung mit 20 möglichen Ereignissen:
Unendliche Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Mathematiker beschäftigen sich aber durchaus auch mit unendlichen Mengen.
Zum Beispiel der Menge aller reeller Zahlen zwischen 0 und 1. Man nimmt sich zufällig eine Zahl zwischen 0 und 1 und möchte gern wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie bestimmte Eigenschaften hat.
Die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche zufällig gewählte Zahl kleiner als 0,5 ist sollte 0,5 (also 50%) sein. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie größer als 0,7 ist, sollte 0,3 sein. Die Wahrscheinlichkeit, daß die erste Nach-Komma-Stelle eine 7 ist, sollte 0,1 sein (alle Nachkommastellen sollten gleichwahrscheinlich sein).
Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Zahl zu einem bestimmten Intervall gehört, sollte die Länge des Intervalls sein:
Mathematisch formalisisiert man diese Vorstellung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung der reellen Zahlen mit dem Lebesgue-Maß.
Das Intervall [0,1] hat Maß 1 und man definiert die Wahrscheinlichkeit einer Eigenschaft E als das Lebesgue-Maß der Menge M={x in [0,1]: x hat Eigenschaft E}.
Zum Beispiel für die Eigenschaft E: x < 0.5 ist die Menge M=[0,0.5) und diese Menge hat Lebesgue-Maß 0.5.
Hier hatte ich mich für zufällige Eigenschaften von Zahlen aus dem Intervall [0,1] interessiert. In diesem Fall hat der Gesamt-Raum das Maß 1.
Wenn ich mich für zufällige Eigenschaften von Zahlen aus irgendeinem Intervall [a,b] interessieren würde, müßte ich die Wahrscheinlichkeit jeweils als Lebesgue-Maß dividiert durch b-a definieren. Auf diese Weise hat der Gesamt-Raum wieder die Wahrscheinlichkeit 1.
Wahrscheinlichkeit 0
Ein einzelner Punkt hat Maß 0. Also ist die Wahrscheinlichkeit einer einzelnen Zahl gleich 0. Wenn ich zufällig eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 nehme, werde ich mit Wahrscheinlichkeit 0 gerade 0.5 (oder irgendeine andere spezielle Zahl) ziehen. Trotzdem ist dieses Ereignis natürlich nicht unmöglich.
Anders als bei den endlichen Wahrscheinlichkeitsverteilungen gibt es also jetzt mögliche Ereignisse, die trotzdem Wahrscheinlichkeit 0 haben.
Abzählbarkeit
Jede endliche Menge hat Maß 0. Also z.B. die Menge M={0.1,0.2,0.3,0.4,0.5,0.6,0.7,0.8,0.9}. Wenn ich zufällig eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 nehme, werde ich mit Wahrscheinlichkeit 0 gerade eine dieser 9 Zahlen ziehen.
Maße sind additiv: das Maß einer disjunkten Vereinigung zweier Mengen ist gerade die Summe der Maße der beiden Mengen.
Das Lebesgue-Maß ist aber sogar “σ-additiv”: das Maß einer disjunkten Vereinigung abzählbar vieler Mengen ist gerade die Summe der Maße der einzelnen Mengen.
“Abzählbarkeit” bedeutet hier einfach, daß man die Mengen durchnummerieren kann (mit natürlichen Zahlen), vgl. den Wikipedia-Artikel.
Seit Cantor weiß man, daß die Menge der rationalen Zahlen abzählbar ist. Insbesondere ist sie die Vereinigung abzählbar vieler Mengen, die alle aus jeweils einem Element bestehen. Weil diese ein-elementigen Mengen Maß 0 haben und das Lebesgue-Maß σ-additiv ist, hat dann auch die Menge der rationalen Zahlen Maß 0.
Wenn ich zufällig eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 nehme, werde ich mit Wahrscheinlichkeit 0 eine rationale Zahl ziehen, also mit Wahrscheinlichkeit 1 eine irrationale Zahl.
Das ist natürlich insofern überraschend, daß die meisten der aus der Schule bekannten Zahlen rational sind. Trotzdem gibt es viel mehr irrationale als rationale Zahlen.
“Anwendungen”
Man weiß, daß z.B. π oder die Wurzel aus 2 irrational sind. Wenn man es noch nicht gewußt hätte, könnte man mit dem Argument aus dem vorigen Abschnitt die Existenz irrationaler Zahlen beweisen. Denn wenn die rationalen Zahlen eine Nullmenge sind, dann muß es insbesondere irrationale Zahlen geben. Die Wahrscheinlichkeitstheorie beweist also die Existenz irrationaler Zahlen.
Man muß natürlich sagen, daß der klassiche Beweis der Irrationalität der Wurzel aus 2 (oder auch dieser geometrische Beweis) einfacher ist als Cantors Beweis der Abzählbarkeit rationaler Zahlen und die Konstruktion des Lebesgue-Maßes.
Es gibt aber auch schwierigere mathematische Probleme, auf die sich solche Wahrscheinlichkeits-Argumente anwenden lassen.
Zum Beispiel die Frage nach der Existenz transzendenter Zahlen. Das sind Zahlen, die man nicht als Nullstellen eines Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten bekommen kann. Es ist sehr schwer, explizit die Transzendenz einer Zahl zu beweisen. Das erste bekannte Beispiel einer transzendenten Zahl wurde 1844 von Liouville konstruiert, Lindemann bewies 1882 die Transzendenz von π
Man kann aber (ähnlich zu Cantors Beweis der Abzählbarkeit der rationalen Zahlen) beweisen, daß die Menge der Polynome mit ganzzahligen Koeffizienten abzählbar ist. Insbesondere ist die Menge der Nullstellen solcher Polynome abzählbar, hat also Lebesgue-Maß 0.
Wenn ich zufällig eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 nehme, werde ich mit Wahrscheinlichkeit 0 eine Nullstelle eines ganzzahligen Polynoms ziehen, also mit Wahrscheinlichkeit 1 eine transzendente Zahl. Insbesondere gibt es transzendente Zahlen, auch wenn ich (mit diesem Beweis) natürlich noch nicht weiß, wie ich ein konkretes Beispiel bekommen kann.
Solche Existenzbeweise mittels wahrscheinlichkeitstheoretischer Argumente gibt es inzwischen in vielen Teilgebieten der Mathematik. Oft sind es gerade die scheinbar komplizierten Eigenschaften, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben. Ein Beispiel: in der theoretischen Informatik interessiert man sich für sogenannte Expander-Graphen (TvF 101), die gute Stabilitäts-Eigenschaften haben. Wenn man einfach zufällig einen Graphen zeichnet, ist dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Expander – das beweist insbesondere, daß es Expander-Graphen gibt. Die Konstruktion expliziter Serien von Beispielen erfordert aber schwere Mathematik (TvF 103).
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