Ende 2009 hatten wir mal über neuere Entwicklungen zur ‘Virtuell Haken’-Vermutung berichtet. Auf einer Konferenz am Poincaré-Institut in Paris soll heute ein Beweis dieser Vermutung von Ian Agol angekündigt worden sein.
Bei der ‘Virtuell Haken’-Vermutung geht es um Flächen in 3-dimensionaler Räumen. Topologen untersuchen solche 3-dimensionalen Mannigfaltigkeiten gerne, indem sie sie entlang von Flächen aufschneiden, um so einfachere 3-Mannigfaltigkeiten zu bekommen. Damit die aus der ursprünglichen Mannigfaltigkeit M nach dem Aufschneiden entlang einer Fläche F entstandene neue Mannigfaltigkeit wirklich einfacher ist als die ursprüngliche M, soll die Fläche “inkompressibel” sein, d.h. π1F–>π1M injektiv sein (anschaulich: es soll keine Teile von F geben, die sich in M zusammendrücken lassen). Wolfgang Haken hat nämlich vor 50 Jahren (für asphärische 3-Mannigfaltigkeiten) bewiesen, daß man man eine 3-Mannigfaltigkeit mit geringerer Komplexität als M bekommt, wenn man entlang einer inkompressiblen Fläche aufschneidet.
Asphärische 3-Mannigfaltigkeiten, die mindestens eine inkompressible Fläche haben, nennt man heute Haken-Mannigfaltigkeiten. Die nach Aufschneiden entlang einer inkompressiblen Fläche F entstandene 3-Mannigfaltigkeit geringerer Komplexität ist wieder eine Haken-Mannigfaltigkeit, man kann sie also wieder entlang einer Fläche aufschneiden, mittels Wiederholung dieser Prozedur erhält man nach endlich vielen Schritten eine Vereinigung von 3-dimensionalen Kugeln. Deshalb kann man Beweise topologischer Aussagen für Haken-Mannigfaltigkeiten mit vollständiger Induktion führen. Der Induktionsanfang besteht im Beweis der Aussage für 3-dimensionale Kugeln, und der Induktionsschritt beweist die Aussage für M unter der Annahme, daß sie für die durch Aufschneiden entlang F erhaltene 3-Mannigfaltigkeit gilt. Zum Beispiel hat Thurston mittels eines solchen Induktionsbeweises die Geometrisierungtsvermutung für Haken-Mannigfaltigkeiten bewiesen, wofür er 1982 die Field-Medaille erhielt (für die Details des Beweises erhielt dann noch 1998 McMullen die Fields-Medaille, weitere Beiträge stammen von Otal), oder Waldhausen nutzte dieses Induktionsprinzip für den Beweis des Starrheitssatzes: Haken-Mannigfaltigkeiten sind eindeutig bestimmt durch ihre Fundamentalgruppe.
Das 2-dimensionale Analog zu 3-dimensionalen Haken-Mannigfaltigkeiten: jede Fläche kann entlang inkompressibler Kurven in eine einfachere Fläche (und letztlich in 2-dimensionale Kugeln) zerlegt werden.
Haken-Mannigfaltigkeiten lassen sich also besser verstehen als andere 3-Mannigfaltigkeiten, weil man durch Aufschneiden entlang von Flächen ihre Komplexität reduzieren kann.
Es ist bekannt, daß (in einem statistischen Sinne) nur ein sehr kleiner Teil aller 3-Mannigfaltigkeiten M Haken-Mannigfaltigkeiten sind. Andererseits ist es für Anwendungen oft ausreichend, wenn M eine endliche Überlagerung hat, die eine Haken-Mannigfaltigkeit ist. (Man sagt dann M ist ‘virtuell Haken’.)
Zum Beispiel haben Gabai-Meyerhoff-N.Thurston 1997 bewiesen, daß sich Thurstons Beweis der Geometrisierungsvermutung auf ‘virtuelle Haken’-Mannigfaltigkeiten ausdehnen läßt.
Es stellt sich also die Frage, wieviele 3-Mannigfaltigkeiten eine endliche Überlagerung haben, die eine Haken-Mannigfaltigkeit ist.
Die ‘Virtuell Haken’-Vermutung
Die (in den 60er Jahren von Friedhelm Waldhausen aufgestellte) ‘Virtual Haken Conjecture’ (VHC) besagt:
jede geschlossene 3-Mannigfaltigkeit hat eine endliche Überlagerung, die eine Haken-Mannigfaltigkeit ist.
(Es würde genügen zu beweisen, daß es eine endliche Überlagerung mit b1>0 gibt. Denn damit bekommt man eine 1-dimensionale Kohomologieklasse, die unter Poincare-Dualität einer Fläche entspricht, welche man mit Chirurgien inkompressibel machen kann.
Eine stärkere Version der VHC ist die Frage, ob es zu jeder geschlossenen 3-Mannigfaltigkeit endliche Überlagerungen mit beliebig großen Werten von b1 gibt.
Eine andere stärkere Version, die ursprünglich von Thurston nur als Frage formuliert wurde und lange als unwahrscheinlich galt, nach der 2008 von Agol veröffentlichten Arbeit “Criteria for virtual fiberedness” aber äquivalent zu VHC ist , ist die Frage, ob es zu jeder geschlossenen 3-Mannigfaltigkeit sogar eine endliche Überlagerung gibt, die ein Flächenbündel über S1 ist.)
Beweis und Folgerungen
Im Herbst 2009 hatten Kahn-Markovic eine schwächere Version der VHC bewiesen, nämlich daß die Fundamentalgruppe jeder geschlossenen 3-Mannigfaltigkeit eine Flächengruppe (d.h. die Fundamentalgruppe einer geschlossenen Fläche) enthält. (Die Arbeit ist inzwischen zur Veröffentlichung in Annals of Mathematics angenommen.)
In diesem Fall kann man leicht zeigen, daß es eine Abbildung der Fläche in die 3-Mannigfaltigkeit gibt, welche aber Selbstschnitte haben kann.
Fläche mit Selbstschnitten
Es ist klar, daß man dann eine Fläche (ohne Selbstschnitte) in der Universellen Überlagerung bekommt, aber es folgt noch nicht automatisch, daß es dann eine Fläche ohne Selbstschnitte schon in einer endlichen Überlagerung gibt.
Um aus der Arbeit von Kahn-Markovic die VHC (für hyperbolische 3-Mannigfaltigkeiten, wegen Geometrisierung genügt es diesen Fall zu betrachten) herzuleiten müßte man wissen, daß die Fundamentalgruppen hyperbolischer 3-Mannigfaltigkeiten LERF (locally extended residually finite) sind.
Ein Plan zur Lösung dieses Problems war von Daniel Wise in seinem monumentalen, 180 Seiten langen Preprint “The structure of groups with a quasiconvex hierarchy” entworfen worden. Die Vermutung, die er dort aufstellte war: wenn eine hyperbolische Gruppe G die Fundamentalgruppe eines kompakten Würfelkomplexes X mit nichtpositiver Krümmung ist, dann hat X eine endliche Überlagerung Y, die “speziell” ist. (Äquivalent: π1Y ist Untergruppe einer rechtwinkligen Artin-Gruppe.)
Die Fundamentalgruppe einer hyperbolischen Mannigfaltigkeit ist hyperbolisch und es folgt aus der Arbeit von Kahn-Markovic, dass die Fundamentalgruppe einer hyperbolischen 3-Mannigfaltigkeit gleichzeitig auch Fundamentalgruppe eines kompakten Würfelkomplexes X mit nichtpositiver Krümmung ist. Wises Vermutung läßt sich also auf hyperbolische 3-Mannigfaltigkeiten anwenden und man kann aus ihr herleiten, daß asphärische 3-Mannigfaltigkeiten die “Virtuell Haken”-Vermutung erfüllen und dann sogar noch einiges mehr: alle asphärischen 3-Mannigfaltigkeiten M haben endliche Überlagerungen, die ein Flächenbündel über S1 sind, ihre Fundamentalgruppen sind LERF, erlauben injektive Homomorphismen nach GL(n,Z) und haben Untergruppen von endlichen Index mit surjektiven Homomorphismen zur freien Gruppe (insbesondere hat M endliche Überlagerungen mit beliebig großer Betti-Zahl b1) und noch weitere komplizierter zu formulierende Folgerungen.
Diese Vermutung mit allen ihren Folgerungen soll jetzt also bewiesen sein, angekündigt heute in einem Vortrag beim IHP-Programm “Surfaces and 3-manifolds” von Ian Agol (aufbauend auf gemeinsamer Arbeit mit Daniel Groves und Jason Manning). (Abstract.)
Nachtrag: Der Beweis benutzt übrigens Perelmans Hyperbolisierungssatz, um den allgemeinen Fall asphärischer 3-Mannigfaltigkeiten auf den hyperbolischen Fall zu reduzieren. (Mit anderen Worten: Agols Beweis betrachtet nur hyperbolische 3-Mannigfaltigkeiten.) Ein topologischer Beweis für beliebige asphärische 3-Mannigfaltigkeiten hätte einen alternativen topologischen Beweis für das Hyperbolisierungstheorem geliefert.
Bilder:
1. https://mathworld.wolfram.com/Torus.html
2. https://en.wikipedia.org/wiki/File:MorinSurfaceAsSphere%27sInsideVersusOutside.PNG
Ian Agol, Daniel Groves, & Jason Manning (2012). The virtual Haken conjecture ArXiv arXiv: 1204.2810v1
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