Singularitäten mittels Stromverteilung.
Zu Poincarés heutigem 100. Todestag ein kurzer Hinweis, daß es neben Poincarés mathematischen Arbeiten (die heute natürlich eher von wissenschaftshistorischem Interesse sind, siehe Topologie von Flächen 172; über Poincarés Mathematik hatten wir hier im Mathlog außerdem u.a. im Zusammenhang mit der Geschichte des Schmetterlingseffekts und der Poincaré-Vermutung geschrieben)
auch sehr lesenswerte populärwissenschaftlich-wissenschaftsphilosophische Bücher aus Poincarés Feder gibt, deren deutsche Fassungen inzwischen (da auch die Übersetzer seit mehr als 70 Jahren tot sind) auch als pdf’s im Internet frei verfügbar sind:
“Wissenschaft und Hypothese”
“Der Wert der Wissenschaft”
“Wissenschaft und Methode”
Während “Wissenschaft und Hypothese” in eher nüchternem Ton die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft seiner Zeit abhandelt (Was ist “der Raum”, die “Kraft”, wie unterscheidet sich die mathematische Welt von der physikalischen?), diskutiert “Der Wert der Wissenschaft” in lockerer und teilweise polemischer Form anhand vieler Beispiele die Grundlagen der Physik und die Rolle der Mathematik darin. Ich zitiere mal den Beginn des 1. Kapitels “Anschauung und Logik in der Mathematik”:
Es ist unmöglich, die Werke der großen Mathematiker zu studieren, ja selbst die der kleinen, ohne zwei entgegengesetzte Tendenzen, oder vielmehr zwei vollständig verschiedene Geistesrichtungen zu unterscheiden. Die einen sind vor allem durch die
Logik beeinflußt; wenn man ihre Werke liest, könnte man glauben, daß sie nur Schritt
für Schritt vorrücken, nach der Methode eines Vauban, der mit seinen Belagerungswerken
gegen eine Festung vorrückt, ohne dem Zufall das geringste zu überlassen. Die andern lassen sich durch die Anschauung leiten und machen, gleich kühnen Reitern im Vorpostengefecht, mit einem Schlag große Eroberungen, die aber nicht immer zuverlässig sind.Nicht der zu bearbeitende Stoff veranlaßt sie zur einen oder anderen Methode. Wenn man die ersteren oft Analytiker, die anderen Geometer nennt, so bleiben die einen Analytiker, selbst bei geometrischen Arbeiten, während die anderen auch dann noch Geometer sind, wenn sie sich mit reiner Analyse beschäftigen. Es ist die Anlage des Geistes, die sie zu Logikern oder intuitiven Naturen macht, und sie können sich nicht davon befreien, wenn sie einen neuen Gegenstand vornehmen.
Es ist auch nicht die Erziehung, die in ihnen die eine der beiden Richtungen geweckt und die andere erstickt hat. Man wird zum Mathematiker geboren, nicht erzogen, und allem Anschein nach wird man auch zum Geometer oder zum Analytiker geboren.
Ich möchte Beispiele anführen, und es fehlt mir nicht daran, aber um den Gegensatz deutlich hervorzuheben, muß ich mit einem besonders schlagenden Beispiel beginnen; es sei mir gestattet, es an zwei lebenden Mathematikern zu zeigen.
Méray führt den Beweis, daß eine binomische Gleichung immer eine Wurzel hat, oder, gemeinverständlich ausgedrückt, daß jeder Winkel sich teilen läßt.
Wenn es eine Wahrheit gibt, die uns auf den ersten Blick als solche in die Augen fällt, so ist es diese. Wer zweifelt daran, daß ein Winkel sich immer in eine beliebige Anzahl gleicher Teile teilen läßt? Méray ist anderer Meinung, ihm scheint diese Voraussetzung keineswegs einleuchtend, und er widmet dem Beweis mehrere Seiten.Nehmen wir dagegen Felix Klein, er studiert eine der allerabstraktesten Fragen der Funktionentheorie. Es handelt sich darum, ob auf einer gegebenen Riemannschen Fläche immer eine Funktion existiert, die gegebene Singularitäten zuläßt.
Was macht der berühmte deutsche Geometer? Er ersetzt seine Riemannsche Fläche durch eine Metallfläche, deren elektrische Leitungsfähigkeit nach bestimmten Gesetzen variiert. Er verbindet zwei ihrer Punkte mit den zwei Polen einer elektrischen Säule. Er sagt sich, daß der Strom hindurchgehen muß, und daß die Art, in der er sich über die Fläche verteilt, eine Funktion definiert, deren Singularitäten genau die durch das Problem geforderten sind.Natürlich weiß Klein sehr gut, daß er damit nur ein Aperçu gemacht hat; trotzdem hat er nicht gezögert, es zu veröffentlichen. Und vermutlich glaubte er darin, wenn auch keinen strengen Beweis, so doch eine Art moralischer Gewißheit gefunden zu haben. Ein Logiker hätte eine derartige Vorstellung mit Abscheu von sich gewiesen, oder er wäre vielmehr gar nicht in die Lage gekommen sie abzuweisen, weil sie ihm nie in den Sinn gekommen wäre.
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