Der folgende Artikel ist ein Beitrag von Zuzana Hakčaková, den ich (mit freundlicher Genehmigung) übersetzt und für die Veröffentlichung in diesem Blog redigiert habe. Aktueller Anlaß ist der heutige 13. Geburtstag von Wikipedia.(TK)
Ich habe Soziologie studiert und arbeite seit nunmehr eineinhalb Jahren an einer Dissertation zum Thema “Autorita a Anonymita” (Autorität und Anonymität) – ich gehe der Frage nach, wie in den anonymen Welten des Internets, in Blogs, Foren oder der Wikipedia trotz Anonymität Autorität entstehen kann. Besonders die verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia liefern hierfür – und auch für die Besonderheiten unterschiedlicher Kulturkreise – reiches Anschauungsmaterial.
Auf einer Diskussionsseite der deutschsprachigen Wikipedia sah ich vor einigen Tagen diesen Beitrag unter der Überschrift Gullivers Verbannung durch die Briefmarkensammler:
Stellt Euch vor, Gulliver gerät auf eine fernen Insel, die von einer Gesellschaft von Briefmarkensammlern bewohnt wird, die meinen, sie würden getreulich das Wissen der Welt abbilden. Tatsächlich, es finden sich Marken auf denen die Pyramiden in Ägypten abgebildet sind, wilde Tiere und Eskimos, Fernsehtürme und Fabriken. Der Niagarafall und das Matterhorn. Staatsmänner, Schriftsteller und Künstlerinnen. Das Atomium. Das Briefmarkensammeln ist ganz einfach, man muss nur die Postsäcke durchsuchen und findet viele bunte Marken aus aller Welt und es macht Spaß und erfüllt die Sammler mit Stolz, sie in ein dickes Buch zu kleben. Streit gibt es nur manchmal bei der Frage, wer eine Marke als erster kleben darf und wie die Marken am besten geordnet werden sollten.
Stellt Euch vor, Gulliver – inzwischen weit herum gekommen – versucht seinen Gastgebern zu vermitteln, dass dieses und jenes Detail auf den Marken nicht ganz akkurat ist. Vor allem die Briefmarken aus England wollen ihm nicht recht gefallen, da sie oft veraltet sind und den jetzigen Zustand des Landes nicht gut wiedergeben. Er versucht ihnen zu helfen, z.B. erklärt er auch, dass bei den Pyramiden kaum mehr Kamele, sondern eher Jeeps zu sehen seien. Er merkt aber, dass seine Gastgeber zunächst nur zum Schein auf seine Erläuterungen eingehen, manche aber anfangen miteinander zu tuscheln und ihm böse Blicke zuwerfen. Als er dennoch weiter erzählt, dass in seiner Heimat Nottinghamshire die Auffassung herrscht, dass Robin Hood wahrscheinlich eine Legende sei, kommt es zu einem tumultartigen Handgemenge, in dessen Folge Gulliver zu Boden geht und festgehalten wird. In einem darauf folgenden Gerichtsprozess spricht der Richter das Urteil, dass Gulliver die Autorität der Briefmarken in Frage gestellt hätte und den Grundsatz der werturteilsfreien Wiedergabe der Welt befleckt.
Hier versuchen manche, so wie Gulliver eine aus Sicht der Sammler „exzentrische“ Perspektive auf Grundlage der eigenen Identität einzubringen. Wenn sie keine exzentrische Perspektive, sondern eine ganz normal durchschnittsdeutsche Perspektive hätten, würden sie gar nicht auffallen damit. Angeblich weiß im Internet keiner, dass Du ein Hund bist, aber wenn Du bei Wikipedia die ganze Zeit über Chappi schreibst und nicht – wie alle anderen – über Jägerschnitzel, fällt es dann eben doch auf.
Auf einer Diskussionseite aus dem Bereich Feminismus habe ich mal gehört, dass eine Feministin im Artikel über Feminismus befangen sei. So unverblümt hört man es selten. Aber in der Tendenz ist das hier öfter so.
Es gibt einen Wissenschaftler, der einen ganzen Kulturkreis inklusive zweier Religionen bei Wikipedia abdecken will und in Äußerungen auf Metaseiten meint, die Verantwortung für die Richtigkeit der Artikel zu haben. Sein Ansatz ist, dass Religionsangehörige bei Wikipedia nichts zu suchen hätten. Seine Methode ist, entsprechende Benutzer so lange als Ignoranten zu bepöbeln und ihnen nachzustellen, bis sie entnervt aufgeben oder zurückschlagen. Zwei seiner Widersacher wurden unlängst gesperrt, weil sie es nicht mehr ertragen haben, verfolgt zu werden und sich deswegen – auf zugegeben illegitime Weise – eine neue Identität gesucht hatten. Es wird Zeit mal wieder gründlicher über Religionsfreiheit nachzudenken.
Wer eine bei Wikipedia unterrepräsentierte Minderheitenperspektive einbringen will, muss sich der Mehrheit gegenüber andienen oder wird entweder verfolgt und ständigen Provokationen ausgesetzt – nicht von allen und zum Teil aufrichtig gegen Angriffe verteidigt von Admins, aber doch so, dass keine normale Arbeit möglich ist – oder, wenn er oder sie diese Verfolgung durch wechselnde Identitäten erschweren will, gleich offiziell für vogelfrei erklärt. olag disk 22:13, 9. Jan. 2014 (CET)
Folgt man den dort angebenen Verlinkungen, dann erschließt sich die Geschichte eines Konflikts zwischen zwei Autoren, nennen wir sie AY und MM, von denen der eine seine Benutzerseite mit einer türkischen Flagge dekoriert, während des anderen Interesse an der Türkei eher akademischer Natur zu sein scheint.
Es geht, kurz gesagt, darum, dass MM häufig Änderungen von AY an die Türkei oder den Islam betreffenden Artikeln zurücksetzt oder korrigiert und sich dabei auf (oft akademische) Literatur beruft, gelegentlich auch recht deutlich seine Kritik an AYs Beiträgen äußert. Darauf bezieht sich der oben zitierte Beitrag, der – wie man auf verschiedenen Diskussionsseiten nachlesen kann – durchaus keine Einzelmeinung zu sein scheint und symptomatisch auch für andere WP-interne Debatten steht.
Die Abgrenzung des Buchwissens vom Erfahrungswissen, im akademischen (geisteswissenschaftlichen) Bereich ohnehin eine Selbstverständlichkeit, ist natürlich auch in den Wikipedia-Regularien klar geregelt durch Regeln, die genau solche Diskussionen vermeiden sollen, Regeln, die Theoriefindung, also das Einbringen eigener Erkenntnisse und Erfahrungen ausdrücklich verbieten und nur Wissen aus Sekundärliteratur erlauben.
Trotzdem, und da wird es mit Blick auf mein Dissertationsthema spannend, werden diese Diskussionen dort geführt, genauso oft wie in der nichtanonymen Offlinewelt, obwohl doch gerade im anonymen Internet niemand die Möglichkeit hat, die Authentizität des vorgeblichen Erfahrungswissens zu überprüfen. Ein Autor erhält Autorität einfach nur durch seine behauptete persönliche Affinität zu einem Thema, welche selbstverständlich niemand zu kontrollieren vermag.
Konkret zum oben beschriebenen Konflikt stellt sich die Frage, woraus – gerade in der Anonymität des Internets – eine “Perspektive auf Grundlage der eigenen Identität” ihre Glaubwürdigkeit gewinnen sollte, denn schließlich kennt ja überhaupt niemand den realen Hintergrund der beiden Autoren, kann also die akademischen Meriten des einen genauso wenig überprüfen wie die persönlichen Erfahrungen des anderen. AY’s Biographie könnte ohne Weiteres auch völlig anders aussehen als auf seiner Benutzerseite angegeben, etwa so: Jahrgang 1954, Deutscher, Besuch einer katholischen Eliteschule irgendwo im Alb-Donau-Kreis, schon als Schüler journalistisch in der Lokalpresse tätig. Nach einer Veranstaltung der FDP-Ortsgruppe schreibt er einen kirchenkritischen Artikel und wird deshalb der Schule verwiesen. (Sowas gab es noch in den frühen Siebzigern.) Er macht dann doch Abitur, studiert einige Jahre Musik ohne Abschluß, arbeitet lange Jahre in der Industrie und entdeckt schließlich Mitte der Nuller Jahre die Wikipedia, zunächst nur um in Artikeln über musiknahe Themen zu schreiben. Nach Erreichen des Vorruhestands wird er häufiger in der Wikipedia aktiv und legt sich für seine verschiedenen Interessensgebiete unterschiedliche Identitäten zu. Manche fliegen dank aufmerksamer Administratoren sofort auf, etwa als er sich unter dem Namen einer bekannten Wiener Prostituierten anmeldet, andere haben eine längere Lebensdauer, zum Beispiel die als Student der Heinrich-Heine-Universität. Wirklich erfolgreich ist aber nur eine seiner Identitäten, die als 34-jähriger türkischstämmiger Jungunternehmer mit Frau und 2 Töchtern, der in seiner knapp bemessenen Freizeit die deutschsprachige Wikipedia auf Vordermann bringen möchte. Wahrscheinlich macht es ihm Freude, das durch Film und Fernsehen transportierte Klischee, den immer etwas aufgeregt klingenden südländischen Redestil, bis zur Persiflage zu imitieren. Noch mehr Freude macht ihm vermutlich, nun zur Zielgruppe aller möglichen fremdenfeindlichen Angriffe zu werden. Rechtsextreme Webseiten spekulieren über seine Identität, halten ihn für einen türkischstämmigen taz-Autor und sehen in ihm den Anführer einer die deutsche Wikipedia unterwandernden linken Mafia. Dabei schreibt er in der Wikipedia überhaupt keine Artikel, allenfalls kurze Ergänzungen, hält sich hauptsächlich auf Diskussionsseiten auf und meldet vermeintliche oder tatsächliche Sockenpuppen. Als der Platzhirsch der Wikipedia von seinen Gespielinnen einen eigenen Personenartikel anlegen läßt, um sich – einen 50-jährigen Dauerstudenten – als einen der führenden deutschen Soziologen und Kollegen von Jürgen Habermas darstellen zu lassen, ist AY diensteifrig zur Stelle und verteidigt den Artikel gegen alle Lösch- und Änderungsversuche. Auch sonst unterstützt er gern Administratoren, vorzugsweise die mit viel Einfluß. Seine Beiträge garniert er oft mit türkischen Zitaten, mangels Sprachkenntnissen aus Wikiquote übernommen. Darüber hinaus untermauert er seine Legende durch Einbringen türkischsprachiger Quellen und Beteiligung an Debatten über die Türkei betreffende Artikel.
Soweit alles ganz lustig und natürlich alles reine Spekulation. Aber wenn wir einmal annehmen, dass es so ist oder jedenfalls so sein könnte, dann stellte sich die Auseinandersetzung zwischen AY und MM und damit auch die ganze darum herum sich entwickelnde Wikipedia-interne Diskussion in einem ganz anderen Licht dar: AY beherrscht die türkische Sprache überhaupt nicht, übersetzt türkische Zeitungsartikel und Buchausschnitte nur mit Google, baut deshalb immer wieder mal inhaltliche Fehler ein. Dafür kritisiert ihn MM und daraus ergibt sich dann der gesamte weitere Konflikt. Und weil natürlich kaum jemand in der deutschsprachigen Wikipedia die türkische Sprache beherrscht, vermag kein Außenstehender zu entscheiden, wer nun eigentlich Recht hat. Mit Ausnahme der Experten, denen man aber grundsätzlich nicht trauen sollte.
Und die Moral von der Geschicht? Keine Ahnung, eigentlich nur, keiner Autorität mehr zu trauen, nicht derjenigen, die sich auf akademische Grade beruft, aber eben auch nicht derjenigen, die Autorität aus angeblicher Abstammung oder Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Kulturkreis herleiten will. Die Anonymität des Internet sollte solch ein Ignorieren selbsternannter Autoritäten doch eigentlich erst ermöglichen.
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