Die Theoreme und Lemmata in einer mathematischen Arbeit sind numeriert. Sie stehen in engem Zusammenhang. So findet man im Beweis von Theorem 11 die Formulierung „Wie man mit Hilfe des Theorems 9 leicht sieht, gilt…” Im Beweis des Theorems 9 steht: “Diese Aussage ergibt sich nach Lemma 3.” Im Beweis von Lemma 3 heißt es: “Diese Behauptung ist richtig, weil sich sonst ein Widerspruch zu Lemma 1 ergeben würde.” So kann es sich durch verwobene logische Schlußketten herausstellen, daß alle Behauptungen einer mathematischen Arbeit nur dann bewiesen sind, wenn Lemma 1 tatsächlich gilt. Wenn also beim Beweis von Lemma 1 kein Fehlschluß unterlaufen ist.
Aber Lemma 1 war falsch.
Am Sonntag ist die Schriftstellerin Helga Königsdorf gestorben, deren (wahrscheinliches) Alleinstellungsmerkmal in der Literaturgeschichte es wohl sein dürfte, dass sie vor ihrer literarischen Laufbahn eine bekannte Mathematikerin war und dass wesentliche Teile ihres literarischen Werkes der Mathematik (in den Erzählungen als “Zahlographie” anonymisiert) und den Abläufen im Wissenschaftsbetrieb gewidmet sind, also zwei sonst im Literaturbetrieb selten stattfindenden Themen.
Da ich hier in Korea gerade keinen Zugang zu den (noch aus der Pre-iTunes-Zeit stammenden) Büchern habe, hier nur das obige Zitat, welches natürlich auch sonst öfter mal erwähnt wird, wenn es irgendwo um Mathematik in der Literatur gehen soll. Das Thema der “Lemma I” genannten Erzählung ist eine junge Mathematikerin, die einen bedeutenden Satz beweist, dann aber einen Fehler in Lemma 1 findet, weshalb ihr Institut “in allen Berichten und Referaten der zentralen Organe […] als Beispiel mangelnder Plantreue genannt” und sie selbst auf eine praxisnahe Stelle von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung abgeschoben wird um, wie es ihr Instituts-Direktor formuliert, “endlich einmal echten Schaden anzurichten”. Die Geschichte mag etwas klamaukig wirken, es gibt aber (um hier keinen falschen Eindruck zu vermitteln) in anderen Erzählungen auch ernsthaftere Darstellungen der wissenschaftlichen Institutionen und ihres Personals, vor allem in der stark autobiographischen Erzählung Respektloser Umgang.
Ihr Arbeitsgebiet in der Mathematik (was erwartungsgemäß in allen veröffentlichten Nachrufen unter den Tisch fallen wird) waren übrigens Nichtlineare Regression und Stochastische Differentialgleichungen.
Letzte Kommentare