Soweit also alles recht unspektakulär. Niemand hat mit seiner politisch blütenweißen Weste “nur die Lizenz beschafft”, kein Autor ist “nach 1945 aus dem Schuldienst entfernt” worden und mußte deshalb notgedrungen die Autorenschaft für ein berühmtes Lehrbuch teilen, und auch sonst gibt es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse in der Geschichte der Buchreihe. Bleibt die Frage: wie kommen die Autoren bzw. der Interviewpartner der DMV-Mitteilungen also zu ihrer Geschichte? Dafür sehe ich 3 denkbare und mehr oder weniger plausible Erklärungen.
– In den (in der Festschrift veröffentlichten) historischen Dokumenten des Klett-Verlages findet sich tatsächlich ein Brief des Verlegers an Wilhelm Schweizer mit dem Ausdruck des Bedauerns, dass Schweizer nun die Leitung seiner Schule abgeben müsse und der Hoffnung, dass er so mehr Zeit für die Arbeit am “Lambacher Schweizer” aufbringen könne. Dieser Brief ist undatiert. Bei näherer Betrachtung wird aber schnell klar, dass er ganz eindeutig aus dem Jahr 1966 stammt und auf Schweizers Ablösung aus Altersgründen bezugnimmt. Beim oberflächlichen Lesen hätte eventuell ein anderer Eindruck erweckt worden sein können und so das Mißverständnis der “Entfernung aus dem Schuldienst” entstanden.
– Die ersten Ausgaben des Lambacher-Schweizer bauten auf dem bis 1945 verwendeten Lehrbuch Kölling-Löffler auf, natürlich bereinigt um weltanschaulich-politisch motivierte Sachaufgaben. Ein Autor dieses Lehrbuches, Kuno Fladt, war nun tatsächlich ein aktiver Nazi, weswegen er auch 1945 als Schuldirektor abgelöst wurde und einige Jahre Schreibverbot hatte. Im beginnenden kalten Krieg wurde er dann 1950 entnazifiziert und 1952 noch einmal Schuldirektor in Calw. Der Interviewpartner des DMV-Artikels könnte Fladt mit Schweizer verwechselt bzw. die Biographien der beiden vermischt haben. Dafür spricht vor allem, dass Fladt tatsächlich von 1933 bis 1945 Direktor an genau dem Kepler-Gymnasium in Tübingen war, an dem Schweizer seit 1938 unterrichtete und dessen Direktor er 1954 wurde, so dass ich eine Vermischung der beiden Biographien für die wohl plausibelste Erklärung der im Artikel der DMV-Mitteilungen kolportierte Geschichte ansehen würde. (Zumal Fladt wohl tatsächlich ursprünglich mal als Autor des späteren “Lambacher-Schweizer” angefragt worden war.)
– Und schließlich gibt es als 3. Variante auch noch die Möglichkeit, dass die Autoren durchaus wussten, wie es wirklich war, aber davon ausgingen, dass es schon niemand so genau nachprüfen wird.
Beutelspacher, Albrecht; Törner, Günter; Interview mit Professor Günter Pickert. Mitt. Dtsch. Math.-Ver. 23 (2015), no. 1, 48–58
Nachtrag (April 2017) Prof. Jörg Stark aus Kusterdingen, Autor der oben zitierten Festschrift, hat mir folgende Dokumente zukommen lassen, aus denen hervorgeht dass tatsächlich Fladt und nicht Schweizer nach Kriegsende zunächst nicht wieder Schuldirektor werden durfte.
Weiterer Nachtrag: Hier noch einige Zeitungsausschnitte aus der Regionalpresse, die mir Herr Stark zur Verfügung gestellt hat:
Artikel zum Tod von Schweizer im Tagblatt
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