Der Lambacher Schweizer – wohl die bekannteste Schulbuchreihe für Mathematik an deutschen (und Schweizer) Gymnasien. Theophil Lambacher und Wilhelm Schweizer hatten 1945 im Auftrag der Alliierten damit begonnen, neue (d.h. von nationalsozialistischen Inhalten bereinigte) Mathematik-Lehrbücher zu erstellen, hunderte Mathematiklehrer waren seitdem in knapp 70 Jahren an den einzelnen Titeln der immer noch nach den ursprünglichen Herausgebern benannten Reihe beteiligt.
Erstaunliches über die Geschichte dieser Lehrbuchreihe erfährt man nun in der jüngsten Ausgabe der DMV-Mitteilungen (auf Seite 53, in einem Interview zweier pensionierter Professoren mit einem inzwischen verstorbenen Kollegen):
Theophil Lambacher hatte nur die Lizenz beschafft, weil er politisch eine blütenweiße Weste hatte. Wilhelm Schweizer23 hingegen ist nach 1945 aus dem Schuldienst entfernt worden. […] Zu dem berühmten Lehrwerk hat Lambacher so gut wie nichts beigetragen.
23Wilhelm Schweizer war erst seit 1937 Parteianwärter und wurde bei der Entnazifizierung als Mitläufer eingestuft.
So in der aktuellen Ausgabe der DMV-Mitteilungen (Fußnote im Original).
Die Geschichte vom hinterlistigen Volksverräter, der seinen Kollegen mit dessen Vergangenheit erpresst, um als Koautor einer berühmten Buchreihe zu erscheinen, mag nicht besonders glaubwürdig klingen – wir werden uns aber wohl auf das verlassen müssen, was die letzten Zeitzeugen erzählen; schließlich waren wir nicht dabei und haben auch keine Möglichkeit, die Geschichte zu überprüfen.
Oder?
Glücklicherweise haben wir hier einen der seltenen Fälle, wo man nicht alles glauben muss, was Zeitzeugen berichten und “in der Zeitung steht”. Die Geschichte des “Lambacher Schweizer” ist schon vor einigen Jahren dokumentiert worden. Der Klett-Verlag hat im Jahr 2011 eine aufwändig recherchierte Broschüre zur Geschichte der Buchreihe herausgebracht, mit einer Reihe von Original-Dokumenten. Und die findet man samt der Original-Dokumente sogar im Internet (und wird kurioserweise im Artikel der DMV-Mitteilungen sogar als Quelle zitiert): https://www.klett.de/sixcms/media.php/185/Festschrift_LS65_Internet.pdf
Aus diesen Dokumenten ergibt sich eine völlig andere Geschichte als in den DMV-Mitteilungen erzählt. Wilhelm Schweizer ist 1945 keineswegs aus dem Schuldienst entlassen worden. Er war seit 1943 nicht an der Schule tätig, hatte in einem Forschungsprojekt mitgearbeitet. Nach Kriegsende wurde er stellvertretender Schuldirektor. (Weil der Schulunterricht erst im September 1945 wieder begann, musste er im Sommer mit Schülern im “Kartoffelkäfer- und Heilkräterdienst” arbeiten.) Aus dem Schuldienst entfernt war er jedenfalls nicht und er hatte auch keine Schwierigkeiten politischer Art, wegen denen er einen politisch unbelasteten Koautoren gebraucht hätte. Ganz im Gegenteil war es (laut seinen online vorliegenden persönlichen Erinnerungen) ein Vertreter eines vom neuen Kultusministerium eingesetzten Ausschusses, welcher ihn darum bat oder eher dazu drängte, neue Lehrbücher zu verfassen weil die alten “politisch verseucht” seien und von den Alliierten nicht genehmigt würden. Es hat also keineswegs Lambacher mit seiner “blütenweißen Weste” (nur) die Lizenz besorgt, wie es im Artikel der DMV-Mitteilungen steht, sondern Schweizer war von staatlicher Seite als Autor angefragt worden. Und die Geschichte seiner “Entfernung aus dem Schuldienst” ist frei erfunden.
Was die weitere Geschichte des “Lambacher Schweizer” anlangt, so verlief diese (laut Schweizers eigenen, online vorliegenden Erinnerungen) wie folgt: Lambacher und Schweizer verfaßten die ersten Bände gemeinsam, später fungierten sie als Herausgeber und gewannen andere Mathematiklehrer als Autoren für die einzelnen Bände. In den 50er Jahren war (jedenfalls nach Schweizers eigener Darstellung und auch nach der seines Verlegers) Schweizer der aktivere der beiden Herausgeber, Lambacher war in dieser Zeit Präsident des Oberschulamtes und Schriftleiter der MNU-Zeitschrift, zeitweise auch im Kultusministerium beschäftigt. 1959 zog sich Lambacher als Mitherausgeber zurück, Schweizer gab die Buchreihe dann für fast 20 Jahre alleine heraus, d.h. er koordinierte die Arbeit der zahlreichen Autoren. Aktuell (Angaben von 2011) arbeiten an der Buchreihe etwa 80 Autoren mit, einen formal verantwortlichen Herausgeber gibt es inzwischen nicht mehr. Die Reihe heißt immer noch “Lambacher Schweizer” nach ihren ersten Autoren und ursprünglichen Herausgebern.
Soweit also alles recht unspektakulär. Niemand hat mit seiner politisch blütenweißen Weste “nur die Lizenz beschafft”, kein Autor ist “nach 1945 aus dem Schuldienst entfernt” worden und mußte deshalb notgedrungen die Autorenschaft für ein berühmtes Lehrbuch teilen, und auch sonst gibt es keine ungewöhnlichen Vorkommnisse in der Geschichte der Buchreihe. Bleibt die Frage: wie kommen die Autoren bzw. der Interviewpartner der DMV-Mitteilungen also zu ihrer Geschichte? Dafür sehe ich 3 denkbare und mehr oder weniger plausible Erklärungen.
– In den (in der Festschrift veröffentlichten) historischen Dokumenten des Klett-Verlages findet sich tatsächlich ein Brief des Verlegers an Wilhelm Schweizer mit dem Ausdruck des Bedauerns, dass Schweizer nun die Leitung seiner Schule abgeben müsse und der Hoffnung, dass er so mehr Zeit für die Arbeit am “Lambacher Schweizer” aufbringen könne. Dieser Brief ist undatiert. Bei näherer Betrachtung wird aber schnell klar, dass er ganz eindeutig aus dem Jahr 1966 stammt und auf Schweizers Ablösung aus Altersgründen bezugnimmt. Beim oberflächlichen Lesen hätte eventuell ein anderer Eindruck erweckt worden sein können und so das Mißverständnis der “Entfernung aus dem Schuldienst” entstanden.
– Die ersten Ausgaben des Lambacher-Schweizer bauten auf dem bis 1945 verwendeten Lehrbuch Kölling-Löffler auf, natürlich bereinigt um weltanschaulich-politisch motivierte Sachaufgaben. Ein Autor dieses Lehrbuches, Kuno Fladt, war nun tatsächlich ein aktiver Nazi, weswegen er auch 1945 als Schuldirektor abgelöst wurde und einige Jahre Schreibverbot hatte. Im beginnenden kalten Krieg wurde er dann 1950 entnazifiziert und 1952 noch einmal Schuldirektor in Calw. Der Interviewpartner des DMV-Artikels könnte Fladt mit Schweizer verwechselt bzw. die Biographien der beiden vermischt haben. Dafür spricht vor allem, dass Fladt tatsächlich von 1933 bis 1945 Direktor an genau dem Kepler-Gymnasium in Tübingen war, an dem Schweizer seit 1938 unterrichtete und dessen Direktor er 1954 wurde, so dass ich eine Vermischung der beiden Biographien für die wohl plausibelste Erklärung der im Artikel der DMV-Mitteilungen kolportierte Geschichte ansehen würde. (Zumal Fladt wohl tatsächlich ursprünglich mal als Autor des späteren “Lambacher-Schweizer” angefragt worden war.)
– Und schließlich gibt es als 3. Variante auch noch die Möglichkeit, dass die Autoren durchaus wussten, wie es wirklich war, aber davon ausgingen, dass es schon niemand so genau nachprüfen wird.
Beutelspacher, Albrecht; Törner, Günter; Interview mit Professor Günter Pickert. Mitt. Dtsch. Math.-Ver. 23 (2015), no. 1, 48–58
Nachtrag (April 2017) Prof. Jörg Stark aus Kusterdingen, Autor der oben zitierten Festschrift, hat mir folgende Dokumente zukommen lassen, aus denen hervorgeht dass tatsächlich Fladt und nicht Schweizer nach Kriegsende zunächst nicht wieder Schuldirektor werden durfte.
Weiterer Nachtrag: Hier noch einige Zeitungsausschnitte aus der Regionalpresse, die mir Herr Stark zur Verfügung gestellt hat:
Artikel zum Tod von Schweizer im Tagblatt
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