Mathematik wie jede Wissenschaft ist bekanntlich heute sehr fragmentiert, immer wieder faszinierend sind deshalb Bücher oder Artikel, die es schaffen, ein einzelnes Thema unter den Gesichtspunkten sehr unterschiedlicher Teilgebiete der Mathematik darzustellen. Ein solcher Artikel ist letzte Woche auf dem ArXiv erschienen, das 149 Seiten lange Werk “Signatures in algebra, topology and dynamics”, geschrieben in teils recht blogartigen Stil von einem algebraischen Topologen und einem Spezialisten für dynamische Systeme, soll die “Einleitung” eines geplanten knotentheoretischen Buches “Signatures, braids and Seifert surfaces” werden und liefert einen (sicher immer noch lange nicht vollständigen) Überblick über die Rolle quadratischer Formen und ihrer Signaturen in sehr unterschiedlichen Gebieten der modernen mathematischen Forschung.

We survey the 19th century development of the signature of a quadratic form, and the applications in the 20th and 21st century to the topology of manifolds and dynamical systems.

Der Artikel beginnt mit einer leichtverständlich geschriebenen Klassifikation der quadratischen Formen nach Jacobi und Sylvester bzw. Cauchy (modulo linearer oder orthogonaler Kongruenz), wie man sie gerne schon als Erstsemester im Lineare Algebra-Kurs gehabt hätte, und mit einer ausführlichen Darstellung des Satzes von Sturm, der die Anzahl der Nullstellen eines Polynoms in einem gegebenen Intervall berechnet.

Many contemporary mathematicians have forgotten the numerical aspect
of theoretical algebra. If a polynomial with real coefficients is given, how can
one determine in practice its roots with a given accuracy? Modern computers
give us the feeling that it suffices to type the command “Solve P(x) = 0”
to get an immediate answer. As a matter of fact, treatises on Algebra, at
least until the end of the nineteenth century, gave a strong emphasis on this
numerical problem. For instance, the classical “Cours d’alg`ebre sup´erieure”,
by J.A. Serret [125], dated 1877, is one of the first textbooks with a thorough
presentation of Galois theory. It contains several chapters on the numerical
aspect and splits the topics in two distinct problems. The first is the separation
of roots: one has to count the number of roots in a given interval, in
order to locate intervals containing a single root. The second consists of various
numerical methods enabling to shrink such an interval to any desirable
length. Concerning the separation problem, there is no doubt that the most
impressive theorem is due to Sturm.
Amazingly, one of the “most brilliant discoveries in Analysis” is only
familiar today to a very tiny minority of mathematicians.

Der Zusammenhang zum Thema des Buches ergibt sich daraus, dass Sturms Formel als Signatur einer tridiagonalen Matrix beschrieben werden kann.
Weiter werden im ersten Kapitel dann symmetrische Formen über beliebigen Körpern diskutiert. (Zum Beispiel benötigt man für die Anwendungen des Satzes von Sturm quadratische Formen über dem Funktionenkörper R(X).) Die symmetrischen Formen über einem Körper lassen sich in der sogenannten Witt-Gruppe organisieren, die für Beispiele verschiedener Körper berechnet wird.

Kapitel 2 (Topologie) behandelt die auf Hermann Weyl zurückgehende Signatur von 4k-dimensionalen Mannigfaltigkeiten, ihre Berechnung durch Pontrjagin-Klassen, und noch mittels Heegaard-Zerlegungen und Lagrange-Unterräumen in der Homologie der Heegaard-Hyperfläche definierte Invarianten ungerade-dimensionaler Mannigfaltigkeiten.

Kapitel 3 (Knoten, Zöpfe, Verschlingungen) ist eine Einführung in die topologischen Methoden der Knotentheorie: Seifert-Fläche, Seifert-Matrix, universelle abelsche Überlagerung, Alexander-Polynom und schliesslich die Murasugi-Tristram-Levine-Signatur (die sich als Invariante eines symplektischen Automorphismus auf der Homologie der Seifert-Fläche interpretieren lässt) und deren höherdimensionalen Verallgemeinerungen.

Kapitel 4 ist eine Einführung in die Theorie des Maslov-Index, formal eine beschränkte Kohomologieklasse auf der symplektischen Gruppe oder anschaulicher eine Invariante geschlossener Kurven im Raum aller Lagrangeschen Unterräume des Cn.

The Maslov class appears in different guises in many different parts of mathematics.
• In mathematical physics, as originally introduced by Maslov in [90].
• In hamiltonian dynamics, for example though the introduction of the Conley-Zehnder index for periodic orbits.
• In topology where it is closely related to the signature of 4k-dimensional manifolds, the basic invariant of surgery theory.
• In algebra, specifically in the study of Witt groups, and their nonsimply-connected generalizations the Wall surgery obstruction groups.
• In number theory, since it is related to some automorphic forms

Kapitel 5 beschreibt drei Klassen dynamischer Systeme, bei denen Maslov-Indizes nützlich sind. Das sind zum einen symplektische Abbildungen des Einheitsballs, wo der Maslov-Index mit der Ruelle-Invariante zusammenhängt, dann der Conley-Zehnder-Index von Fixpunkten hamiltonscher Flüsse und schliesslich die Arnold-Invariante oder Helizität von Vektorfeldern, interpretiert als asymptotische Verschlingungszahl von Orbiten.

Kapitel 6 (Zahlentheorie und Topologie) behandelt vor allem die Modulgruppe SL(2,Z), die Berechnung des Hirzebruchschen Signaturdefekts durch die Rademacher-Funktion oder durch Dedekind-Summen, und Anwendungen in der Topologie.

Und schliesslich werden im Appendix noch Signaturen quadratischer Formen über nichtkommutativen Ringen (mit Involution) diskutiert; die braucht man in der algebraischen Topologie, weil dort die äquivariente Schnittform der universellen Überlagerung als quadratische Form über einem ZG-Modul betrachtet wird. (G ist die Fundamentalgruppe, ZG der Gruppenring, dieser wirkt auf der Homologie der universellen Überlagerung und die Schnittform hat Werte in ZG.)

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Etienne Ghys, & Andrew Ranicki (2015). Signatures in algebra, topology and dynamics ArXiv arXiv: 1512.09258v1