Neben Gödels Unvollständigkeitssatz (“Es gibt keine absoluten Beweise!”) und Einsteins Relativitätstheorie (“Alles ist relativ!”) ist wohl die hyperbolische Geometrie (“Euklid hatte unrecht!”) eines der am häufigsten zu Fehlinterpretationen Anlaß gebenden Themen der Mathematik.
Ein Beitrag im Deutschlandradio Kultur (bereits vom vergangenen Oktober, auf den ich aber erst jetzt aufmerksam wurde) setzt diese Tradition jetzt fort.
Der Gedanke der Universalität bekam tatsächlich einige Dämpfer in den letzten gut 100 Jahren: zum Beispiel durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie. Sie führte dazu, dass manche geometrischen Gesetze der antiken Mathematik angesichts der Krümmung der Erdoberfläche nicht absolut gelten.
erfährt man dort und das Argument
“Die Winkelsumme im ebenen Dreieck ist 180 Grad, einerlei ob man im Urwald oder in einer Stadt mit lauter rechtwinkligen Wänden aufgewachsen ist.”
wird wie folgt widerlegt:
Die Frage ist ja, was bedeutet denn dieser Satz eigentlich? Und der bedeutete im Laufe der Geschichte etwas völlig unterschiedliches. Ist das ein Statement, was wir rauskriegen, indem wirs einfach nachmessen? Ist das ein Statement, was wir einbinden in ein Theorienetz? Oder befinden wir uns sogar in Zusammenhängen, wo es gar nicht gilt? Sobald Sie zum Beispiel ein Dreieck auf eine Orangenschale malen und dann nachmessen, wie die Winkelsummen sind, stimmt das gar nicht mehr.
Nun ja, die sphärische Geometrie ist keine Entdeckung der letzten 100 Jahre. Griechen und Phönizier wußten, dass die Erde rund ist und benutzten die sphärische Geometrie für Berechnungen oder beim Zeichnen von Landkarten. Alle wichtigen Sätze der sphärischen Trigonometrie waren bereits Menelaos, der um das Jahr 100 das Buch Sphaerica verfaßte, bekannt und natürlich wußte er auch, dass die Innenwinkelsumme sphärischer Dreiecke größer als 180 Grad ist. Bei der nichteuklidischen Geometrie ging es um etwas anderes, nämlich um eine Geometrie, in der das Parallelenaxiom nicht gilt, die anderen Axiome Euklids aber schon – dies ist für die Geometrie auf der Sphäre nicht der Fall. Und natürlich hängt die Innenwinkelsumme im Dreieck nicht davon ab, ob man im Urwald oder in der Stadt aufgewachsen ist. (Sie hängt nicht einmal davon ab, wo man sich gerade befindet, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die Erdkrümmung ja doch einigermaßen konstant ist.)
Man könnte das alles peinlich oder lustig finden oder eben den tausendunddrölfsten Radiobeitrag, in dem Mathematik fehlinterpretiert wird. Weniger amüsant wird es dann aber durch den Kontext, in den die Macher der Sendung ihre “Entdeckung” stellen und mit der sie wohl an aktuelle politische Debatten anknüpfen wollen. Da wird zunächst Oswald Spenglers “Der Untergang des Abendlandes” zitiert:
“Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken.”
und dann (durchaus mit Abstufungen, ich zitiere jetzt hier eher die extremeren Beispiele) einer Ethnomathematik das Wort geredet, in der die Inhalte des Mathematikunterrichts offenbar von der Herkunft der Schüler abhängig gemacht werden sollen. Eine Dortmunder Didaktik-Professorin wird wie folgt zitiert:
“Das ist ja wirklich auch eine ganz schwierige Frage. Also tun wir den Schülerinnen und Schülern in Afrika was Schlechtes, wenn wir ihnen westliche Mathematik beibringen oder tun wir ihnen was Gutes? Wir tun ihnen was Gutes in dem Sinne, als sie Zugang bekommen zu der dominanten Mehrheitskultur, und das ist auch wichtig. Wir haben damit aber auch viel Schlechtes getan, weil wir einfach zu wenig anknüpfen an das, was die Schülerinnen und Schüler als Ressourcen mitbringen und auch zu wenig wertschätzen, was an Alternativen da wäre.”
Man fragt sich, welche Konsequenzen aus dieser Haltung an Dortmunder Schulen gezogen werden sollen. Möchte man in Zukunft einen nach Ethnien getrennten Mathematikunterricht, in dem Kinder mit deutschen Großeltern anders unterrichtet werden als diejenigen arabischer Herkunft, und diese wieder anders als jene, deren Eltern aus Afrika eingewandert sind? Hoffen wir mal, das ist alles nicht so ernst gemeint und die Erziehungswissenschaftler wollten nur mal gerne ins Radio.
(Natürlich ist es ein hehres Anliegen, im Unterricht auf Fähigkeiten oder Vorkenntnisse der einzelnen Schüler individuell eingehen zu wollen. Ob man aber in der heutigen Zeit diese Fähigkeiten oder Vorkenntnisse nun gerade, wie es offenkundig das Anliegen der Sendung ist, an der ethnischen Herkunft der Kinder festmachen sollte, naja, wohl eher nicht. Und in jedem Fall hat das alles nichts mit der nichteuklidischen Geometrie oder den Dreiecken auf der Orangenschale zu tun – die Innenwinkelsumme ist auch “im Urwald” dieselbe wie in der Stadt.)
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