Heute hatten wir hier am Korea Institute for Advanced Study die Feier zum 20-jährigen Institutsjubiläum, wozu neben einer eher langweiligen Zeremonie mit Grußworten und Absingen der Nationalhymne auch ein Vortrag Geometry and Physics: Cross-Fertilization and Missed Opportunities (sowie noch ein Vortrag zur Stringtheorie) gehörte.

image

Im Vortrag über “Cross-Fertilization and Missed Opportunities” ging es darum, wie Ideen aus der Physik in die Geometrie wirken (und umgekehrt) und um einige Anekdoten zu mathematischen Entdeckungen, die schon einmal Jahrzehnte zuvor von einem Physiker gemacht wurden und dann aber zunächst (auch von den Physikern) kaum beachtet wurden.

Das vielleicht beeindruckendste Beispiel ist die Entdeckung des 4-dimensionalen Chern-Gauß-Bonnet-Theorems sieben Jahre vor Chern. Seitdem Einstein seine Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie als Euler-Lagrange-Gleichung eines Krümmungsfunktionals hergeleitet hatte, interessierten sich Physiker auch für andere Krümmungsfunktionale und die sich aus deren Variation ergebenden Euler-Lagrange-Gleichungen. Man wußte damals natürlich schon, dass nach Gauß-Bonnet die Integration der Krümmung über eine Fläche immer nur (unabhängig von der Metrik) ein Vielfaches der Euler-Charakteristik liefert, aber die Physiker interessierten sich ja nicht für Flächen, sondern für 4-dimensionale Raumzeiten. Cornelius Lanczos betrachtete dann in den 30er Jahren Funktionale der Form \int_M \alpha\parallel Riem\parallel^2+\beta \parallel Ric\parallel^2+\gamma scal^2 dvol, wobei Riem den Riemannschen Krümmungstensor, Ric die Ricci-Krümmung und scal die Skalarkrümmung bezeichnet und \alpha,\beta,\gamma geeignet zu wählende Zahlen sind. Er stellte fest, dass man für \alpha=\frac{1}{4},\beta=-1,\gamma=\frac{1}{4} eine von der Metrik unabhängige Konstante bekam, nämlich 8\pi^2\chi(M). Damit war dieses Funktional für die Physiker uninteressant, weil man ja durch Variation nur eine triviale Feldgleichung bekommt. Tatsächlich hatte Lanczos aber die 4-dimensionale Version des dann erst Mitte der 40er Jahre von Chern gefundenen Chern-Gauß-Bonnet-Theorems entdeckt, das nach Cherns Wiederentdeckung der Prototyp für die Probleme der globalen Differentialgeometrie wurde, also die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen lokalen Krümmungsgrößen und globalen topologischen Eigenschaften einer Mannigfaltigkeit. (Insbesondere verallgemeinerte sich diese Formel durch die Chern-Weil-Theorie, die charakteristische Klassen eines Bündels mittels Integration von Krümmungsgrößen berechnet.) Chern hatte (laut Bourguignon) auch Jahrzehnte später noch nicht gewußt, dass die 4-dimensionale Version seines Theorems schon in den 30er Jahren mal von einem Physiker entdeckt worden war.

Andere Beispiele waren Weyls Entdeckung der Eichinvarianz in seiner (physikalisch falschen) Vereinheitlichung von Relativitätstheorie und Elektromagnetismus, die Untersuchung des Ricci-Flusses mittels Variation der wegen der Analogie zu relativistischen Feldgleichungen untersuchten Krümmungsfunktionale, die Anwendungen der Yang-Mills-Theorie in der 4-dimensionalen Topologie oder die Theorie der Spinoren und des Dirac-Operators, die zunächst in Diracs relativistischer Quantentheorie vorkamen und dann aber wegen des Atiyah-Singer-Theorems grundlegend für die Theorie elliptischer Differentialoperatoren wurden: aus dem Indexsatz für den Diracoperator folgte der Indexsatz für allgemeinere elliptische Operatoren.

Ein interessantes (und nicht so bekanntes) Beispiel einer verpaßten Gelegenheit war Kaluza's Ansatz, mit dem er 1918 Gravitation und Elektromagnetismus verbinden wollte. Er betrachtete einen 5-dimensionalen Raum mit einer Projektion auf die 4-dimensionale Raumzeit und wollte mit dieser Konstruktion Einstein- und Maxwell-Gleichungen vereinen. Physikalisch war das nicht der richtige Ansatz, mathematisch aber war die zentrale Formel seiner Arbeit die O'Neill-Formel für Riemannsche Submersionen, die die Mathematiker erst 40 Jahre später fanden. (Zu Kaluza's Zeit interessierten sich Mathematiker allenfalls für Untermannigfaltigkeiten, nicht für Submersionen. Erst mit dem Aufkommen der Bündel-Theorie durch Whitney, Ehresmann und andere wurde es dann für Mathematiker auch interessant, sich mit Riemannschen Submersionen zu befassen.)

Ein Beispiel in der umgekehrten Richtung Mathematik ==> Physik war Ricci-Curbastro's Arbeit zur Ricci-Krümmung. Die hatte er 1904 definiert, weil er meinte, dass die Eigenvektoren der zu dieser Bilinearform assoziierten Matrix von geometrischem Interesse sein könnten. Mathematisch hat dieser Ansatz bis heute keinerlei Ergebnisse gezeitigt, in der allgemeinen Relativitätstheorie (und dann natürlich auch in der Differentialgeometrie) war die Ricci-Krümmung selbst aber dann durch ihr Vorkommen in den Einsteinschen Feldgleichungen bald von grundlegender Bedeutung.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (1)

  1. #1 Keno
    28. September 2016

    In der damaligen Form war Kaluzas Theorie nicht zielführend, aber seine grundlegende Idee der Dimensionskompaktifizierung und den resultierenden Eichfeldern wird ja heute gerne benutzt. Witzigerweise sind wir damit wieder bei Lanczos: Er erkannte, dass die Kombination der quadratischen Krümmungen triviale Gleichungen ergeben -in vier Dimensionen. Darüber hinaus wollte er wohl nicht nachdenken. Ab fünf Dimensionen aufwärts ergeben sich aber doch recht brauchbare Feldgleichungen, Korrekturen zu den Einsteinschen Gleichungen. Man nennt diese Gravitationstheorie dann passenderweise: Gauss-Bonnet-Theorie. Wird das “Gauss-Bonnet-Funktional” variiert, ergibt sich der heute sogenannte “Lanczos-Tensor”, und das obwohl Lanczos selbst nicht nur nie den Tensor herleitete, sondern ja auch auf halber Strecke die Nutzlosigkeit dieses Unterfangens verkündete.