Letzte Woche ist ein Beweis (oder eher eine Beweisankündigung?) einer mehr als 60 Jahre alten Vermutung, die in den vergangenen Jahrzehnten von vielen Mathematikern erfolglos bearbeitet worden war, auf dem ArXiv erschienen. Das bemerkenswerte an dem neuen Beweis ist, dass er nur 6 Zeilen lang ist und nur Resultate benutzt, die eigentlich schon seit Jahrzehnten bekannt sind.

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Es geht um komplexe Strukturen auf Sphären. (In TvF 180 und TvF 181 hatten wir mal ausführlicher darüber geschrieben.) Man überdeckt die Sphären mit Landkarten wie im Bild oben, bekommt auf diese Weise einen Atlas mit gewissen Übergangsabbildungen auf den Schnittmengen zweier Landkarten, und man möchte jetzt, dass diese Übergangsabbildungen komplex differenzierbar sind. Einen solchen Atlas mit komplex differenzierbaren Übergangsabbildungen bezeichnet man als komplexe Struktur.

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Auf einer Mannigfaltigkeit mit einer komplexen Struktur kann man insbesondere eine Multipilkation von Tangentialvektoren mit der komplexen Zahl i definieren. Letzteres bezeichnet man als “fast-komplexe Struktur” (also wenn man auf dem Tangentialbündel eine wohldefinierte Multiplikation mit i hat) und Serre und Borel hatten schon in den 50er Jahren bewiesen, dass die 2n-dimensionalen Sph¨ren für n>3 keine fast-komplexe Struktur haben können. Der Grund ist, dass die n-te Chernklasse einer fast-komplexen Struktur die Euler-Charakteristik, also 2, ergeben müsste, andererseits Bott aber die Teilbarkeit der n-ten Chernklasse durch (n-1)! bewiesen hatte. (Eine Ausarbeitung des Beweises ist z.B. hier.)

Komplexe Strukturen gibt es nur auf gerade-dimensionalen Mannigfaltigkeiten, und es ist lange bekannt, dass es auf der S2 eine komplexe Struktur gibt (nämlich als Riemannsche Zahlenkugel CP1) und auf der S4 nicht (auch keine fast-komplexe). Die S6 kann man als Schnitt der Einheitssphäre in den Oktonionen mit dem Unterraum der imaginären Oktonionen auffassen, was einem eine Multiplikation mit einer imaginären Oktonion auf jedem Tangentialraum und damit eine fast-komplexe Struktur liefert. Man kann aber nachrechnen, dass diese nicht von einer komplexen Struktur kommen kann. Die Frage nach der Existenz einer komplexen Struktur auf der 6-dimensionalen Sphäre war mindestens seit 1953 eine offene Vermutung, zu der es immer wieder fehlerhafte Beweise und Beweisankündigungen gab.

Der neue Beweis (letzte Woche auf dem arXiv, aber schon seit Juli zirkulierend) scheint auf den ersten Blick zu einfach, als das man ihn glauben wollte, er ist aber jedenfalls von einigen Experten geprüft worden und es hat den Anschein, dass ein einfaches (oder jedenfalls einfach aus lange bekannten Argumenten folgendes) Argument bisher übersehen wurde. (Andere Experten sollen allerdings Zweifel angemeldet haben.)

There are natural forgetful maps from complex K-theory to KR theory and in dimension 6 the integers go to 0, so a hypothetical complex structure on S6 would give an even element. But we know one almost complex structure J(0) which is odd, and crucially we know that being even or odd is a topological property and so shared by all almost complex structures (see section 3). This is a contradiction and so proves
Theorem 2.1. There is no complex structure on the 6-dimensional sphere.

So der 6-Zeilen-Beweis in Atiyah’s neuer Arbeit: eine komplexe Struktur gibt einem ein komplexes Tangentialbündel und mithin ein Element in komplexer K-Theorie. (K-Theorie ist eine Kohomologietheorie, deren Elemente von Vektorbündeln repräsentiert werden.) Man weiss, dass das Bild in reeller K-Theorie 0 ist (das ist so für alle Tangentialbündel 6-dimensionaler komplexer Mannigfaltigkeiten) und dass für die bekannte fast-komplexe Struktur auf S6 das Bild in reeller K-Theorie nicht 0 ist. Das bisher übersehene Argument besagt, man könne aus dem Atiyah-Singer-Indexsatz folgern, dass alle fast-komplexen Strukturen dasselbe Element in reeller K-Theorie liefern. Mithin muss für alle das Bild in reeller K-Theorie nicht 0 sein und sie können nicht von einer komplexen Struktur stammen.

Diskussionen zur Korrektheit des Arguments werden etwas versteckt auf mathoverflow geführt: hier, hier und hier.

Ein Video eines Vortrages, den Atiyah Ende Juligehalten hatte: https://www.maths.dur.ac.uk/events/Meetings/LMS/105/movies/1162atiy.mp4

Michael Atiyah (2016). The Non-Existent Complex 6-Sphere arXiv arXiv: 1610.09366v1

Kommentare (21)

  1. #1 Michael
    1. November 2016

    Bringt das Butter & Wurst aufs Brot? Wie kann man den Beweis nutzbringend einsetzen?

  2. #2 Paul
    1. November 2016

    @Michael:
    Wissen – und nichts anderes ist mathematische Gewissheit – ermisst sich nicht in Nützlichkeit.

  3. #3 Spritkopf
    1. November 2016

    @Michael

    Bringt das Butter & Wurst aufs Brot? Wie kann man den Beweis nutzbringend einsetzen?

    Vor 80 Jahren haben Menschen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen ignorant gegenüberstanden, ähnliche Fragen über die Quantenmechanik gestellt. Heute nutzen sie Computer, die ohne Quantenmechanik gar nicht herstellbar wären, um ihre Ignoranz mit möglichst großem Radius über das Internet auszustreuen.

    Und die Ironie des Ganzen fällt ihnen wahrscheinlich nicht mal auf.

  4. #4 Michael
    1. November 2016

    @ Paul

    Ihr Einwand beantwortet meine Frage nicht.

    @ Spritkopf

    1. Die Leute, die vor 80 Jahren Fragen zur Quantenmechanik stellten, müssen sich aber verdammt gut gehalten haben, wenn sie heute Computer nutzen. Respekt.

    2. Warum sind Computer ohne Quantenmechanik nicht herstellbar?

  5. #6 rolak
    2. November 2016

    verdammt gut gehalten

    Das könnte einen (wesentlichen) Teil Deiner Probleme mit der Welt erklären, Michael, Spritkopf spricht von einer Klasse Menschen(‘ignorant’), nicht von bestimmten Personen.

    beantwortet meine Frage nicht

    Muß mich korrigieren: Es ist offensichtlich Dein Hauptproblem: verstehendes Lesen.

    auch ohne Ada, Turing oder Quantenphysik

    Mit derselben Begründung kannst Du sowohl Bleistift als auch Zettel als Rechner bezeichnen, tomtoo, sowohl die als auch der Abakus sind aber bestenfalls eine Rechenhilfe, lösen keineswegs bekannte Aufgaben(klassen) nach vorgegebenen Algorithmen.
    Abgesehen davon tendierst Du anscheinend zum selben Problem wie Michael, Spritkopf schrieb nämlich ausschließlich über die zum Surfen benutzten Computer, keineswegs über Computer im Allgemeinen.

  6. #7 mju
    2. November 2016

    Vor ein paar Wochen hat Atiyah in Bonn einen Vortrag zu Ehren Hirzebruchs gehalten, und dort das Resultat erwähnt, allerdings ohne Details, und nicht ob das Ergebnis positiv oder negativ ist. Auf der gleichen Folie sagte er auch, dass er Adam’s Hopf Invariante 1 Problem auf einer Postkarte lösen könne (“using K-theory”), und Hopkins-Hill-Ravenel’s Beweis auf eine “große Postkarte” reduzieren könne.

    (Gleichzeitig drückte Atiyah seine Abneigung gegen “große Maschinen” aus und forderte die Leute auf, mehr in den alten Quellen zu lesen. Die Idee zu dem Beweisen wär ihm gekommen, als er in einem alten Artikel von Hirzebruch gelesen hätte.)

    Es wäre spannend zu hören, was die Experten zu dem Beweis für komplexe 6-Sphären denken. Ich schätze, die anderen zwei Beweise würden ähnliche Tricks benutzen. Und “Reduktion auf eine Postkarte” stimmt wohl auch nur dann, wenn man einen andere Theorie als gegeben voraussetzt.

    Thilo, wenn du das verfolgst, würde ich mich über ein Update freuen, wenn es Expertenmeinungen dazu gibt.

  7. #8 tomtoo
    2. November 2016

    @rolak
    Tschuldigung. *dackelblick*

  8. #9 Thilo
    2. November 2016

    Dass Adams Beweis zum Hopf-Invariante-1-Problem auf eine Postkarte passe, ist allerdings ein alter Spruch. (Und es stimmt natürlich nur, wenn man K-Theorie und Adams-Operationen als bekannt voraussetzt.) Im Zusammenhang mit Hopkins-Hill-Ravenel kannte ich den Spruch aber nicht und es würde mich wirklich interessieren, wie dieser kurz zusammengefasste Beweis aussieht.

  9. #10 Frank Wappler
    https://en.wikipedia.org/wiki/Tangent#In_geometry,_a_set_of_curves_are_tangent_to_each_other_at_a_given_point_if_they_are_just_touching_but_not_crossing_each_other_at_that_point.
    2. November 2016

    Thilo schrieb (1. November 2016):
    > Komplexe 6-Sphären […]

    Was stellt das erste Bild dar
    (ganz oben im ScienceBlog-Artikel;
    rote, blaue und grüne Kurven
    übereinander bzw./ähnlich einzeln gezeigt)
    ?

  10. #11 Thilo
    2. November 2016

    Das Bild hat nur entfernt mit dem Thema zu tun. Ich habe einfach kein Bild einer 6-dimensionalen Sphäre gefunden.

  11. #12 rolak
    2. November 2016

    *dackelblick*

    Keine Sorge, tomtoo, Deine Variante war die lustige…

  12. #13 Spritkopf
    2. November 2016

    @Michael

    2. Warum sind Computer ohne Quantenmechanik nicht herstellbar?

    Darum nicht.

  13. #14 Uli
    2. November 2016

    So ein Artikel ist immer gut darin, mich daran zu erinnern, daß ich in Mathematik eigentlich ganz gut bin aber eigentlich auch gar nichts weiß…

  14. #15 anderer Michael
    7. November 2016

    So ganz unberechtigt finde ich Michaels Frage nicht. Nur der Tonfall ist halt herablassend, da hat Thilo nachvollziehbar keinen Anlass zu antworten. Und dass Computer ohne Quantenmechanik nicht zu bauen seien, hätte ich auch nicht vermutet.Dass aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis zwingend Konsequenzen folgen müssen, die sich in Heller und Pfennig ausdrücken, und ohne diese Folge die Erkenntnis in jeder Beziehung wertlos wäre,dieser Meinung schließe ich mich nicht an. Unter dieser Prämisse könnte man viele Fachbereich sofort schließen .
    Sofern sich ein praktischer Nutzen aktuell aus dieser Beweisführung ergibt, so interessiert mich dieser schon. Jedoch befürchte ich im positiven Fall, dass zum Verständnis tiefgreifende Mathematikkenntnisse notwendig sind.

  15. #16 michael
    7. November 2016

    @Anderer Michaell
    Natürlich kann man einen Computer ohne quantenmechnische Kennisse bauen. Wenn Du viel Zeit und Platz hast: Z3.

  16. #17 anderer Michael
    8. November 2016

    Also ich bin kein Naturwissenschaftler und vermute einfach mal, dass auch ohne Wissen um Quantenphysik ein handelsüblicher Durchschnittscomputer zu bauen sei, nicht von mir, aber von Elektronikfachleuten.
    Der praktische Nutzen der Beweisführung für komplexe 6-Sphären bleibt mir erstmal verborgen, in erster Linie weil ich kein Mathematiker bin.
    Der Mensch ist von Natur neugierig und will sein Wissen erweitern.

  17. #21 rolak
    22. September 2018

    Stellvertretend hier mal recht schönen Dank für den unermüdlichen update-Service, Thilo!