Zum morgen in Saarbrücken beginnenden Nationalen IT-Gipfel hat die Deutsche Mathematiker-Vereinigung eine Presseerklärung herausgegeben. Grob gesagt geht es darum, dass auch weiterhin theoretische Grundlagen und nicht nur der Umgang mit digitalen Medien gelehrt werden sollten.

Die Erklärung im Wortlaut:

Berlin, 15. November 2016. Der Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereinigung fasst seine Position zur „Bildungsoffensive zur digitalen Wissensgesellschaft“ wie folgt zusammen.
Um die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern, muss auf allen Ebenen der Bildung gehandelt werden. Wir begrüßen den Willen der deutschen Bildungspolitik, ihren Handlungsspielraum auf diesem Feld zu nutzen. Mit ihrer gegenwärtigen Schwerpunktsetzung schafft die „Bildungsoffensive zur digitalen Wissensgesellschaft“ aus unserer Sicht allerdings eine Scheinlösung und könnte ihr Ziel verfehlen.

Deshalb plädieren wir dafür, den Schwerpunkt der Debatte und der „Offensive“ zu verschieben. Ziel sollte sein, grundlegende Kompetenzen zu vermitteln, die Lernende zu einem mündigen Umgang mit digitalen Neuerungen befähigen. Wir fordern: Inhalte statt Geräte!

Tablets und soziale Netzwerke verwenden zu können, heißt noch lange nicht, den digitalen Wandel zu meistern. Vollständig digital kompetent ist und bleibt auf lange Sicht nur, wer die theoretischen Grundlagen versteht. Diese Grundlagen entstehen nicht als Nebeneffekt beim Lernen mit digitalen Medien, sondern müssen separat und fokussiert im Unterricht vermittelt werden. Digitale Medien können und sollten hierzu nur ergänzend eingesetzt werden. Nach Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit sind Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch meist viel besser geeignet. Auch dürfen diese Grundlagen nicht allein Hochbegabten oder digital Affinen vorbehalten bleiben, sondern müssen Teil der Allgemeinbildung werden.

Ohne die vorherige Vermittlung dieser Grundlagen ist die Belieferung von Bildungseinrichtungen mit Soft- und Hardware hingegen eine Scheinlösung. Bleiben die richtigen Lerninhalte aus, hemmt sie sogar den Anstieg der Digitalisierungskompetenz in Deutschland. Stattdessen wird die Lernzeit der Lernenden überfrachtet, und oberflächlich sinnvolle Inhalte verdrängen den Erwerb von Grundlagen.

Wir halten es daher für fehlgeleitet, an erster Stelle in digitale Medien zu investieren. Reduziert man Digitalisierungskompetenz auf den Umgang mit digitalen Medien, so glaubt man irrig, Digitalisierungskompetenz entstehe erschöpfend im Lernen mithilfe digitaler Medien. Das Gegenteil ist aber richtig: Erst die auf Grundlagen sorgfältig aufbauende Digitalkompetenz kann das enorme Potenzial moderner Hard- und Software voll nutzen! Digitale Medien sollten nicht um ihrer selbst willen und auf Kosten der Zukunft Lernender gefördert werden.
Wir fordern über die föderalen Hemmnisse hinweg, die allgemeinen Rahmenbedingungen für die Bildung zu verbessern. Wir fordern den Unterricht in den Fächern Mathematik und Informatik zu stärken und nicht weiter auszudünnen, damit hier die grundlegende und langfristige Digitalisierungskompetenz vermittelt werden kann. Wir fordern, die Lehrerbildung in diesen Bereichen substanziell zu verbessern. Wir fordern, analytisches Denken gezielt zu lehren und diesem Anliegen Priorität zu geben.

Was denken die scienceblogs-Leser?

Kommentare (11)

  1. #1 Dr. Webbaer
    16. November 2016

    Howdy [1], Herr Kuessner, …

    Nach Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit sind Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch meist viel besser geeignet.

    Negativ. Oder: “It depends.”

    Erstens ist das Web sozusagen ‘Tafel und Papier’, zweitens, hier wäre die bi- oder n-laterale Auseinandersetzung gemeint, soll diese auch dann, wenn sie ursprünglich bi- oder n-lateral angelegt ist, im Web aufgezeichnet bereit gestellt werden.

    Die Gründe hierfür könnten allgemein einleuchten.

    MFG + HTH (“Hope this helps”) + beste Grüße und weiterhin viel Erfolg in Süd-Korea,
    Ihr Dr. Webbaer

    [1]
    Die womöglich passende Anrede-Form bestimmte aktuelle politische Entwicklung in den Staaten meinend.

  2. #2 gedankenknick
    16. November 2016

    Hmm… Wenn man eine deutsche “Standard-Dorf-Grundschule” mit 6 Klassenstufen a 2 Klassen mit jeweils durchschnittlich 25 Schülern voll digitalisiert, stehen in jedem Klassenraum mindestens 27 Rechner, 1 Beamer fürs Whiteboard, dazu vermutlich 1 Switch und/oder mehrere WLan-Access-Points. Macht locker 360 wartungs- und updatepflichtige IT-Geräte auf diese eine Schule.
    Ich bezweifele schwer, dass das “Ministerium für Bildung, Jugend und Sport” eine Extra-Stelle für einen “IT-Hausmeister” bewilligt, der alle Support-Aufgaben durchführt.

    Bei aller Begeisterungsfähigkeit der modernen Technik gegenüber – und allen Potential, was sich damit realisieren läßt (wenn die Lehrkraft dafür genug Wissen, Zeit, Lust und Kraft [zusätzlich] aufwendet)… Die Tafel meiner Jugend hat mal ein Update zur “Schiebetafel” (Zusatzfunktion “Hoch und Runter”) bekommen; und sie läuft allein mit Kreide, Wasser und Schwamm. Außerdem ist sie immer noch stromausfall- und virensicher. Analog hat nicht nur Nachteile. (Und für komplizierte Tafelbilder gab es einen “Polylux”, der aber später zum “Overhead-Projektor” upgedated wurde…)

  3. #3 michanya
    16. November 2016

    … frei nach ADAM RIESE – die erste Mathe sollte man noch an den 5 Fingern abzählen können – wenn die Grundlage sitzt kann man die höhere Mathe auch mit digitalen Mitteln weiter ausbauen …

    das 1×1 muss erst sitzen – biotec4u

  4. #4 Karl Mistelberger
    16. November 2016

    Mit den sogenannten “Kompetenzen” ist es so eine Sache. Sagt doch Harald Lesch: Offenbar unterrichtet Schule nur mehr Kompetenzen. Fähigkeiten im Sinne von oh, da kann ja jemand was, das scheint nicht mehr wichtig zu sein.

  5. #5 schorsch
    16. November 2016

    Als unser Gymnasium endlich fertig gebaut war, war ich richtig gespannt auf den Unterricht. Wurde der Neubau doch über die Maßen mit Vorschußlorbeeren bedacht und gelobt: Modernstes Sprachlabor Deutschlands! Hightech! Ganz neue Unterrichtsformen möglich!

    Ich habe dieses Sprachlabor während meiner gesamten Schulzeit nie betreten. Es war da, es war modern, manchmal stand die Tür offen und wir konnten Techniker darin verzweifeln sehen – es war völlig nutzlos.

    Auch in anderer Hinsicht war unsere Schule vom allerfeinsten ausgerüstet. Z. B. mit einem Funkraum, mit Fernschreibern (damals war sowas noch Hightech), mit allerneuester Technik… die wir im Unterricht nie zu sehen bekamen, nie nutzen durften. Immerhin, der Physik-Club durfte nachmittags an die Geräte ran.

    Ich habe keinen Zweifel, dass der “Bildungsoffensive zur digitalen Wissensgesellschaft“ ein ähnliches Schicksal beschieden sein wird.

  6. #6 Alexander II
    16. November 2016

    Vielen Dank, Thilo, dass Sie das hier zur Diskussion stellen. Ich lese den Pressetext und suche eine Erklärung, was mit theoretischen Grundlagen wohl gemeint ist? Polynome, Dreiecke in der (euklidischen) Ebene, differenzieren, Bruchrechnung? Ich rate und rate und komme nicht weiter. Da ich ja kein Mathelehrer bin, darf ich ruhig mal Visionen haben: Ich wünsche mir, dass sich die Schüler mit

    – Dualsystem
    – Funktionen
    – Zuweisungen
    – rekursive Formeln
    – Näherungsmethoden
    – Diskretisierung

    beschäftigen. Wär’ doch toll, wenn alle die Tablets einschalten und mit einem eigenen Textverarbeitungssystem ihre Texte schreiben, ihre Daten mit einer eigenen und sicheren Dropbox austauschen, Infografiken erstellen können, Latex lernen und über Verschlüsselung diskutieren.

    Diese Pressemitteilung ist auch nicht mit Tafel, Papier und dem direkten Unterrichtsgespräch entstanden, es wurde sogar das uralt Word benutzt, ohne dessen genauen Grundlagen zu verstehen.

    Und wenn ich jetzt in die Hölle komme, dann würde ich das gern mit Thilo und den anderen tun, uns interessiert auch Ihre Meinung, Thilo …

  7. #7 StefanL
    17. November 2016

    Also in den Kommentaren hier kann der Eindruck entstehen, dass größtenteils eben genau die Problematik “Grundlagen verstehen”- “Technik (i.S.v. technische Lösungen) anwenden” nicht hinreichend antizipiert wird.
    Kein Wunder, dass dann “Gerätegläubigkeit” grasiert und beim Begriff “Mathematik” der Griff erstmal zum Taschenrechner geht, und es dann an analytischem Denken mangelt; sidekick: wohl auch ein Grund für wachsenden Populismus.
    Keine Frage, Computer und verwandtes sind tolle Hilfsmittel aber der Weisheit letzter Schluß? Wie sagt der Volksmund so schön: Laßt euch kein “x” für ein “u” vormachen

    Also von mir eine klare Zustimmung zur Erklärung!

  8. #8 Quisum
    17. November 2016

    Ich halte es für dringend notwendig, das System Schule, also was wann wer wem wie lehren soll grundlegend und auf vernünftiger wissenschaftlicher und auch gesellschaftlicher Basis zu überdenken. Bildung ist die Investition in unsere Zukunft und sollte daher mit dem gehörigen Ernst behandelt werden. Einfach Geld in IT-Ausstattung zu investieren und zu hoffen, das Problem löse sich von selbst ist nicht zielführend.
    Gleichzeitig alles beim Alten zu lassen ebensowenig.
    Die notwendigen mathematischen und Physikalischen und technischen “Kompetenzen” einen Computer vollständig zu verstehen glaube ich als Physikstudent im 5 Semester immer noch nicht zu haben.

  9. #9 tomtoo
    17. November 2016

    Sind Mathematiker nicht schon immer auch ohne Computer in sozusagen Intergalaktische Tiefen (für außenstehende wie mich) vorgedrungen ?

    Könnten die Computernutzung dies beschleunigen ??

  10. #10 gedankenknick
    19. November 2016

    @Quisum:
    Die notwendigen mathematischen und Physikalischen und technischen “Kompetenzen” einen Computer vollständig zu verstehen glaube ich als Physikstudent im 5 Semester immer noch nicht zu haben.
    Wenn Du die hättest, würde Dir Herr William VieleTore, seines Zeichens Fensterbauer, VIEL Geld bezahlen. Dann würdest Du nähmlich immer wissen, warum genau sein Lieblingsverkaufsschlager bei jedem einzelnen Kunden nicht so funktioniert, wie es soll…

    Schon ein modernes Auto zu verstehen ist kaum mehr einer Einzelperson möflich. Gut: Reifen, Motor, Bremse – physikalisches Grundverständnis. Aber erklär mal die GENAUE Funktionsweise des Bordcomputers (also nicht bloß eines Transistors), oder erklär mal den Einfluss der Relativitätstheorie auf die Signalberechnung der GPS-Satelliten, auf die das Navi zurück greift. Erklär mal die Funktionsweise der verbauten “fraktalen Antenne”… etc etc.

    Auch als Mensch mit (mir selbst unterstellter) leidlicher Allgemeinbildung habe ich mich damit abgefunden, dass ich nicht jedes von mir genutzte Gerät bis in letzte Detail verstehen werde. Andererseits verstehe ich auch die Funktionsweise meines Haushalts-mitbewohn-Gegenstands “Schweizer Sennenhund” nicht bis ins letzte Detail – trotzdem habe ich ihn gern (und er mich hoffentlich auch).

  11. #11 anderer Michael
    1. Dezember 2016

    Ja.Die haben recht. Ich glaube aber, die Mathematikschulbuchschreiber brauchen auch Nachhilfe. Solche Bücher sollten von mathematikunbegabten Personen gegengelesen werden und nach Verständnis überprüft werden.
    Letztens älteste Tochter legt mir Aufgabe vor, die sie und ihre Freundinnen nicht geschafft haben. Zwei Seiten eines Trapèzes, a =× +7, c=×+1, x = Höhe, Fläche 63 Quadratcm. Nach x ist gefragt. Ich rechnete und endete bei einer, wie ich inzwischen weiß, gemischten quadratischen Gleichung oder so ähnlich. Keine Ahnung, wie man so was löst. Tochter: so was hätten sie besprochen und zeigt mir ihr Mathebuch. Die Erklärung komplett unverständlich. Die Beispiele verwirrend. Ich habe eine Stunde gebraucht, das Verwirrende zu entfernen, ein ganz einfaches Beispiel entwickelt und siehe da, die Lösung war kein Problem mehr. Zwar kann ich mich im Glanze sonnen, einer Gruppe pubertierender Mädchen gezeigt zu haben, was der Alte geistig noch drauf hat.
    Aber das ist nicht der Sinn des Unterrichtes.
    Und noch soviel Computer, Tablets und Handys wären keine Hilfe gewesen, nur Zettel+ Stift +Nachdenken und ,wie in meinem Fall ,zusätzlich etwas ausprobieren.

    Dazu passt zufällig ein Gespräch mit einem Metallfacharbeiter, der nach einigem Glühweinkonsum erzählte, auf der Schule Mathematik Noten zwischen 4 und 6. Berufsschule aber fast nur Einser. Da war die Mathematik für ihn greifbar und vorstellbar. Er habe immer noch Probleme mit einigen Grundlagen, wie Formeln umstellen.Zum Abschluss erzählte er etwas über eine neue Maschine, zu deren Einstellung das Wissen über Polynome 5. Ordnung notwendig sei und welche er mir dann erklärte. Ich behaupte mal, dumm ist der Mann garantiert nicht. Nur der Mathematikunterricht war nicht auf sein Verständnis von Zahlen ausgerichtet, sowie im Beispiel meiner Tochter und mir.