Die Liste der auf “Open Math Notes” – dem neuen Repositorium für besonders gute Vorlesungsskripte, über das ich letzte Woche kurz etwas geschrieben hatte – gelagerten Vorlesungsskripte ist immer noch recht kurz, aktuell sind es 18. Und eines davon ist eigentlich auch kein altes Vorlesungsskript, sondern ein gerade geschriebenes und offenkundig zur regulären Veröffentlichung bestimmtes Lehrbuch zur Singularitätentheorie von Étienne Ghys: A singular mathematical promenad.
Das ist definitiv kein klassisches Lehrbuch, im Stil und der äußerlichen Aufmachung erinnert es eher an populärwissenschaftliche Bücher. Die einzelnen Themen werden mit Anekdoten und historischen Einordnungen motiviert und alles ist in einem sehr lockeren Stil geschrieben. Es ist aber auch kein populärwissenschaftliches Buch, denn die Mathematik wird im Detail und mit meist ausführlichen Beweisen behandelt und viele der abgehandelten Themen dürften wohl eher für den studierten Mathematiker von Interesse sein.
Der Aufhänger für; das Buch ist ein neues, aber elementares, Theorem von Kontsevich:
vier Polynome in einer reellen Variablen können nicht gleichzeitig
erfüllen. Mit anderen Worten: das Bild von Funktionsgraphen, welches unten in der rechten Spalte oben gezeigt wird, ist für Funktionsgraphen von Polynomen nicht möglich. Der Beweis ist elementar und im Buch geht es dann um unterschiedliche Verallgemeinerungen dieses Problems. Kontsevichs Theorem kann man als Spezialfall der Frage ansehen, welche Permutationen der Zahlen {1,2,3,4} oder allgemeiner {1,2,...,n} sich wie oben durch Funktionsgraphen von Polynomen realisieren lassen. Dies ist genau für die Permutationen (2,4,1,3) und (3,1,4,2) nicht möglich bzw. bei n>4 genau dann, wenn eine dieser beiden Permutationen als Unterpermutation vorkommt. Auch dieser Beweis ist recht elementar. Die Permutationen, auf welche dies nicht zutrifft, heissen "trennbare Permutationen" und sie sind in Kombinatorik und theoretischer Informatik schon lange untersucht worden. Dies dient als Aufhänger für verschiedene Themen aus Donald Knuths "The Art of Computer Programming" und aus der Kombinatorik. Die nächste Verallgemeinerung ist dann von Funktionsgraphen auf implizit (ebenfalls durch Polynome) definierte Gleichungen F(x,y)=0, also Kurven in der Ebene. Das beginnt mit einem längeren historischen Exkurs über das Newton-Verfahren zur Bestimmung von Nullstellen. Explizite Ansätze mittels Potenzreihen findet man heute selten in der Literatur, hier werden die historischen Ansätze und auch Fehler im Detail (und trotzdem kurzweilig) diskutiert und die Ansätze dann auch in die heutige formal-algebraische Sprache eingebettet. Zum Beispiel findet man folgenden "Satz von Newton-Cramer" (den Newton ganz bestimmt nicht so formuliert hatte): The field of Puiseux series Ein zentrales Thema im Buch ist die Topologie von Singularitäten. Das oben abgebildete Möbiusband kommt bei der Auflösung von Singularitäten vor, und zwei Fasern der unten abgebildete Hopf-Faserung erhält man als Umgebungsrand der trivialst-möglichen Singularität - zwei sich schneidenden komplexen Geraden. Andere Beispiele von Umgebungsrändern werden ausführlich besprochen, etwa die Kleeblattschlinge als Umgebungsrand der Kusp-Singularität, oder allgemeiner Torusknoten. Die Darstellung der allgemeinen Theorie orientiert sich dann an Milnors Buch Singular points of complex hypersurfaces. Andere Themen, die im Buch besprochen werden, sind Schleifenräume, Operaden und Stasheffs Satz über H-Räume (wegen des Zusammenhangs trennbarer Permutationen mit Stasheffs Associahedron)$latex P_1(x)>P_2(x)>P_3(x)
$latex P_2(x)>P_4(x)>P_1(x)
is algebraically closed. Die Topologie kommt dann erstmals durch den Beweis von Gauss Fundamentalsatz der Algebra ins Spiel. Smale hatte später gezeigt, dass es im ursprünglichen Beweis eine topologische Lücke gab: Gauss nahm ohne Beweis an, dass eine algebraische Kurve eine Kreisscheibe genauso oft verläßt wie sie hineingeht. Für dieses Detail gibt es viele Beweise, der hier gegebene benutzt die Konvergenz gewisser Potenzreihen und gibt so die Gelegenheit zu historischen Diskursen über das Rechnen mit (konvergenten und divergenten) Potenzreihen.
Ein Satz von Puiseaux gibt eine lokale Parametrisierung einer komplexen algebraischen Kurve um eine Singularität herum durch konvergente Potenzreihen.
und Kontsevichs universelle Knoteninvariante (wegen des Zusammenhangs mit Verschlingungszahlen).
Die oben abgebildeten Buchseiten vermitteln einen ziemlich unvollständigen Eindruck von dem Buch, weil sie die zahlreichen nichtmathematischen Bilder und Exkurse auslassen. Aber von denen macht man sich besser selbst ein Bild.
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