“postfaktisch” oder “post-truth” sind nicht nur Wort des Jahres und Grundlage für einen Beweis der Riemann-Vermutung, sie scheinen auch sonst allerorten auf dem Siegeszug.

Manche Feuilletonisten versuchen diese Entwicklung mit der Entwicklung der Mathematik (und Wissenschaft allgemein) in Zusammenhang zu bringen, etwa Jacob Koshy: “Should ‘post-truth’ depress us?” Ich verstehe nicht so wirklich seinen Punkt über Gödel und Shannon, jedenfalls kommt er zu folgendem Fazit:

Post-truth, when seen this way, doesn’t necessarily point to bleakness but rather suggests that we may be on the edge of completely overturning our sensibilities on what constitutes ‘objectivity’ or ‘knowledge.’ It is now argued that algorithms have, instead of making the world a connected entity, ended up erecting echo chambers that slot us into hermetic opinion bubbles. It is as if everyone’s truths are so true that no debate can lead us to new insight. If science could build itself on foundations that were post-truth, there is no reason why a more humble introspection cannot restore our faith in reading, opinion, analysis and, of course, truth itself.

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Glaubt man dem Physik-Blog Not Even Wong, dann gibt es gerade in den letzten Wochen einen enormen Hype um die (von vielen Physikern eher als Pseudowissenschaft angesehene, dafür aber seit langem von der Templeton-Stiftung geförderte) Viele-Welten-Theorie. Die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik besagt laut Wikipedia, dass alle möglichen Vergangenheiten wie Zukünfte real sind und jede eine tatsächliche Welt oder ein Universum repräsentiert. Die Hypothese beinhaltet eine riesige oder unendliche Anzahl an Universen, und alles was in unserer Vergangenheit geschehen hätte können geschah in der Vergangenheit einiger anderer Universen.

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Das mathematische Analogon zur Viele-Welten-Theorie sollen, dem Oktoberheft des Bulletin of the American Mathematical Society zufolge, Theorien sein, die man durch Verzicht auf das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten erhält (also das Prinzip, das zu jeder Aussage P entweder P oder nicht-P richtig ist, wir hatten damals über den Bulletin-Artikel geschrieben)

We initially set out to understand the difference between the classical and the constructive world of mathematics, only to have discovered that there are not two
but many worlds, some of which simply cannot be discounted as logicians’ contrivances.
[…]
As exciting as a multiverse of mathematics may be, the working mathematician has no time to spend their career wandering from one world to another. Nevertheless, they surely are curious about the newly discovered richness of mathematics, they welcome ideas coming from unfamiliar worlds, and they strive to make their own work widely applicable.

Als Argument wurde im Bulletin angeführt, dass sich Sätze der nicht-konstruktiven Mathematik durch einfache Umformulierungen in konstruktiv beweisbare Sätze verwandeln liessen. So funktioniere der Beweis des Zwischenwertsatzes in der konstruktiven Mathematik nicht, seine Umformulierung ”Wenn f stetig ist und für jedes x entweder f(x)>0 oder f(x)<0 gilt, dann ist f entweder überall positiv oder überall negativ'' aber sei auch ohne das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten beweisbar. Das erinnert ein wenig an Brexit-Befürworter, die argumentieren dass England ja schliesslich auch ohne Binnenmarkt Freihandelsabkommen schliessen könne. unterleuten100_v-contentgross

Und das passende literarische Werk dazu ist vielleicht Juli Zehs letztes Jahr erschienener Gesellschaftsroman “Unterleuten”, wo jedes der 62 Romankapitel aus der Sicht einer der 12 Hauptpersonen geschrieben ist und deren Sichten sich auch in der Darstellung der reinen Fakten der Romanhandlung diametral unterscheiden, der Leser also bspw. nicht erfährt, was denn nun “wirklich” passiert ist in der Gewitternacht vor zwanzig Jahren.

Sorgfältig hatte Gerhard alle Aussagen in ihre Bestandteile zerlegt und alle Informationen neu zusammengesetzt. Was herauskam, stellte die Wahrheit dar. Dann jedenfalls, wenn man aufgeklärt genug war, um {\em Wahrheit} als den Fall mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu betrachten.

Kommentare (12)

  1. #1 MX
    30. Januar 2017

    Postfaktisches kann natürlich einen hohen Grad an Wahrheitsgehalt haben. Der Standardbrief der Post kostet z.B. 70 Cent, das stimmt ohne Wenn und Aber.

  2. #2 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2016/12/09/wort-des-jahres-2016/
    30. Januar 2017

    Ich bin, was die Viele-Welten-Theorie betrifft, nicht gut informiert, nicht mal auf Laienniveau. Aber solange ich keine praktische Verwendung für diese habe, etwa in dem ich in eine mögliche Zukunft wechseln kann, in der ich in der Vergangenheit im Lotto gewonnen habe (was nur eine profane, populistische ad-hoc-Möglichkeit ist), sehe ich auch nicht, wieso ich mich mit dieser Theorie näher beschäftigen sollte.

  3. #3 hubert taber
    31. Januar 2017

    die “viele welten theorie” ist natürlich unsinn.
    auch der wirre begriff “parallel-universen”.

    ich schäme mich regelrecht für den kranken unsinn den die theoretiker in die welt setzen.
    auch die rechnung zeit haben die theoretiker nicht verstanden.
    siehe unter:
    https://scienceblogs.de/genau/2017/01/26/walzer-to-make-fakten-great-again/#comments

    mfg. hubert taber

  4. #4 tomtoo
    31. Januar 2017

    @thilo
    Mathematiker lieben doch Mathematische Rätsel oder ?

    Wenn du mal Lust und Zeit hast kannst du nicht mal bei Klaus reinschauen ?

    Das ist jetzt echt viel Mathe.

  5. #5 Thilo
    31. Januar 2017

    Ja, frueher mal haben die sb-Autoren mehr auch in den anderen Blogs mitdiskutiert. Mal sehen.

  6. #6 Thilo
    31. Januar 2017

    Passend zum Thema: https://www.morgenpost.de/vermischtes/article209453511/Fake-News-zum-Anglizismus-des-Jahres-2016-ernannt.html

    Nachdem ja schon “postfaktisch” das Wort des Jahres und “post-truth” das international word of the year waren.

  7. #7 rank zero
    2. Februar 2017

    Ich bekenne mich hier zu einer wohl inzwischen sehr konservativen Auffassung von Physik – für mich macht die Verifizierbarkeit im Experiment die entscheidende Charakteristik dieser Wissenschaft aus (ebenso wie mathematische Wahrheit durch Beweise erfolgt – beides sind legitime und wichtige Erkenntnismethoden, die aber auch entsprechend zu ganz unterschiedlichen Arten von Gewissheit führen). Dieser Prüfstein kann in seinem Kern kann weder durch die Schönheit von theoretischen Modellen, Computersimulationen, oder bloße Messungen unter unsicheren Modellannahmen (s. den BICEP2-Reinfall!) ersetzt werden.

    Soweit ich weiß, entzieht sich die Viele-Welten-Theorie derzeit jeglicher realistischer experimentellen Überprüfung. Damit gehört sie aus meiner Sicht nicht zur Physik, sondern kann vielleicht am ehesten als eine kuriose Spielart der humanities betrachtet werden. Als Incentive hat sie natürlich, dass man gerade wegen der fehlenden Eingrenzung durch reale Experimente viel mehr publizieren (und zitieren) kann, und diese rein quantitativen Maße in weiten Kreisen als Maß für wissenschaftliche Qualität verstanden werden – eine Entwicklung, die potentiell die Integrität einer Wissenschaft bedrohen kann (zumal zumindest in der Außenwahrnehmung die Physik inzwischen recht stark Hype-geprägt ist, viel mehr als die Mathematik mit ihren derzeit noch angenehm langen Erkenntniszyklen).

  8. #8 hubert taber
    2. Februar 2017

    @ 7 rank zero
    in dem erwänten link auf # 3 findest du den jederzeit reproduzierbaren experimentellen beweis dafür dass:

    a) die vakuumlichtgeschwindigkeit c kein maximum ist
    b) die rechnung zeit immer geschwindigkeits-unabhängig LINEAR bleibt

    das sind verifizierte aussagen die damit viele dumme theorien falsifizieren.

    mfg. hubert taber

  9. #10 rolak
    3. Februar 2017

    vor “bösen Typen”

    Real: integer kann das schon lange nicht mehr bezeichnet werden. Logical, complex character is possible.
    Dürften allerdings im OTon ‘bad guys’ gewesen sein, fällt dann alles flach. Paßt dadurch aber ganz gut zum Niveau des Betrachteten…

  10. #12 hubert taber
    5. Februar 2017

    ich glaube nicht dass es eine “jüdische” oder “nichtjüdische” mathematik geben könnte.
    es gibt nur trotteln oder nichttrotteln.
    und das ist wohl kaum mit dem glaubensbekenntnis verknüpft.

    siehe z.b. unter:
    https://scienceblogs.de/wissenschaft-zum-mitnehmen/2017/02/03/scienceblogs-podcast-neugier-galaxienwanderungen-und-neuer-impfstoff/#comments

    mfg. hubert taber