In Gesprächen mit Kollegen aus der symplektischen Geometrie und verwandten Gebieten hört man immer wieder mal von einer Grundlagenkrise: ihre Arbeiten beruhen auf grundlegenden Arbeiten anderer Mathematiker, die Hunderte Seiten lang, äußerst detailreich und kaum zu verstehen sind, und die deshalb von manchen Mathematikern abgelehnt und von anderen akzeptiert werden. Eine auf solchen Grundlagen beruhende Arbeit bei einer Fachzeitschrift einzureichen gleicht einem Lotteriespiel, weil man nicht weiß, ob man an einen Gutachter gerät, der die jeweils verwendeten Grundlagen gerade als wahr akzeptiert oder nicht. Meist gibt es zu einer Theorie sogar mehrere konkurrierende Ansätze, aus denen man auswählen kann; der Glücksspielcharakter einer Einreichung wird dadurch eher noch erhöht, denn nun muss man auch noch raten, welchen Ansatz der Gutachter bevorzugen wird an den man geraten könnte. Meist versuchen die Leute dann, möglichst viele Resultate ihrer Arbeit auch ohne die Verwendung nicht absolut gesicherter Ansätze zu beweisen, aber das funktioniert meist nur in engen Grenzen.
Über einen speziellen Aspekt dieser Problematik (den Beweis der Arnoldvermutung) hatte das Quanta Magazine jetzt einen ausführlichen Artikel “The fight to fix Geometry’s foundations”, in dem die Standpunkte verschiedener Mathematiker zur Konstruktion der Floer-Homologie dargestellt werden. Auch wenn es im Artikel um die Sichtweisen einzelner Personen geht, wird das Problem erfreulicherweise nicht personalisiert, stattdessen aber auf einen Konflikt Analysis vs. Geometrie reduziert. (Offenbar als Reaktion auf den Artikel in Quanta hat Luboš Motl in “The reference frame” einen äußerst bizarren Artikel “How anti-Asian prejudices helped to poison symplectic geometry” geschrieben, den ich hier nicht verlinken werde und der aber jedenfalls ein extremes Negativbeispiel dafür ist, was man in der einen oder anderen Richtung aus dem Thema auch noch hätte machen können.)
Allerdings trifft auch die im Quanta Magazine dargestellte Unterscheidung zwischen anschaulicher Geometrie und technischer Analysis den Kern des Konflikts wohl nicht wirklich. Alle Arbeiten, um die es im Artikel geht (und überhaupt alle Arbeiten zu Grundlagen der symplektischen Geometrie) sind äußerst technisch und analytisch, selbst wenn sie von Geometern geschrieben wurden. Der Artikel stellt auch die Geschichte der Arnold-Vermutung etwas verkürzt dar. Es war die Idee von Andreas Floer, die sogenannte Floer-Homologie zu entwickeln, aus deren Existenz und Eigenschaften die Arnoldvermutung unmittelbar folgen würde. Floer bewies die Existenz der Floerhomologie aber nur unter eingeschränkten Voraussetzungen und in den Jahrzehnten danach versuchten die Mathematiker, Floers Ansatz auch unter immer schwächeren Voraussetzungen zum Laufen zu bringen. Dabei verwendeten sie weiter Floers geometrische Ideen, aber immer technischere Konstruktionen aus der Analysis. Die Krönung der Entwicklung war dann die Arbeit von Fukaya-Oh-Ohta-Ono, die in der ersten Version 300 Seiten und nach Ausarbeiten aller technischer Details letztlich 1400 Seiten lang war. Manche sprachen bei diesem Beweis damals von einer “technische Exzesse nicht scheuenden” Arbeit. (Weil der Verlag nur maximal 1000 Seiten drucken wollte, mussten zwei Kapitel dann in eine andere Arbeit ausgelagert werden.) Das ist die Arbeit, um die es im Quanta-Artikel vor allem geht. Nachdem die im Artikel dargestellten Debatten aufkamen, schoben die Autoren als Ergebnis jahrelanger kontroverser Diskussionen dann noch einmal einen 250 Seiten langen Nachtrag hinterher. Wie im Artikel beschrieben, sind die Kontroversen damit nicht beendet.
Was diese Geschichte letztendlich zeigt, ist also weniger ein Antagonismus zwischen Analysis und Geometrie, sondern dass in manchen Gebieten der heutigen Analysis die technischen Details inzwischen so kompliziert sind, dass auch in jahrelang diskutierten und tausende Seiten langen technischen Arbeiten immer wieder neue Zweifel auftauchen. (Und das gilt wohl für die meisten heutigen Grundlagen der symplektischen Geometrie.)
Quanta Magazine: A fight to fix geometry’s foundations
Floer: Morse theory for Lagrangian intersections. J. Differential Geom. 28 (1988), no. 3, 513–547.
FO3: Lagrangian intersection Floer theory (300 Seiten, 1998-2000)
FO3: Lagrangian intersection Floer theory (1400 Seiten, 2007)
FO3: A note on the difference between the year-2006 version and the book version of [FOOO].
FO3: Technical details on Kuranishi structure and virtual fundamental chain (2012)
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