“The Scholarly Kitchen” publizierte Anfang März einen Artikel The Tyranny of Amusements — Science, Spectacle, and the Lowly PDF, in dem Kent Anderson – kurz zusammengefaßt – zunächst beklagte, dass in der Wissenschaftspopularisierung der letzten 30 Jahren “showmanship” ernsthafte Diskussionen verdrängt und damit die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft unterminiert habe, und dann als Gegenmittel gegen den Siegeszug der digitalen Medien und Video-Podcasts das PDF empfahl:
The PDF’s power may run deep, in ways that scientific and academic publishers need to contemplate. After all, in the “alternative facts” world we find ourselves, conveying quality, expert accurate information easily and memorably may be more important than ever. Research suggests print conceits — “the typographic mind” — convey these benefits. PDFs are our best print proxies.
In gewisser Weise eine Antwort darauf war drei Wochen später der Artikel Ebooks, Innovation, and the Rebel Within, in dem Verleger Robert Harington über die Zukunft des mathematischen Publizierens reflektiert und letztlich beiden Perspektiven eine Berechtigung einräumt: der oben dargestellten von Kent Anderson und der der “Gegenseite”, für die er Peter Krautzberger zitiert, der an der Weiterentwicklung von MathJax beteiligt war und den AMS Math Viewer entwickelt hat. Der bezweifelt die von Anderson zugunsten der Printmedien ins Feld gebrachten Studien:
“The evidence given seems a bit sparse. I haven’t seen many studies that allow such strong conclusions to be drawn, most fall short in some way e.g., testing subjects with decades of print reading experience but no training in digital reading, questionably designed web content, poorly executed skeuomorphic interfaces. For example, https://www.newyorker.com/science/maria-konnikova/being-a-better-online-reader produces and https://www.scientificamerican.com/article/reading-paper-screens/ provide a more nuanced picture.”
Die Zukunft sieht er dagegen in HTML-Büchern (Webpublikationen).
The idea is not to compete with the reading experience of a print layout, instead focusing on the strengths of the Web, be it a dynamic presentation, accessibility, offline functionality or just connecting you to content inside and outside of the article.
Ich habe Peter (per e-Mail) einige Fragen zu seinen Erwartungen gestellt, die er freundlicherweise beantwortete:
Frage: Mir scheint, dass es bisher zwar durchaus in elektronischer Form publizierte Versionen gedruckter Bücher gibt, aber wohl noch überhaupt keine speziell als ebook konzipierten Mathematikbücher.
PK: Das ist etwas komplizierter. Es gibt sicherlich viel web first / web born / etc Material, das quasi jenseits von Print angesiedelt ist. Vieles ist vielleicht nicht in der Wissenschaft an sich angesiedelt, sondern eher im schulischen Bereich (bis zum Bachelor vielleicht).
Gerade in den USA sind die web-basierten Kurssysteme im Vormarsch, sowohl stark kommerziell orientierte (Cengage, Pearson) als auch mehr Community-driven (edx, coursera, webwork, moodle). In Europa gibt’s das auch immer mehr (z.B. sowiso.nl, iversity).
Darüber hinaus gibt es Nischenlösungen, z.B. Anbieter, die Verlagen Dienste zum Anreichern der Verlagsinhalte bieten. Das sind dann meisten durch “mild” interaktives Material erweiterte Bücher. Diese sind meist komplett auf einzelne Plattformen ausgelegt, insbesondere iBooks (das in Maßen JavaScript erlaubt) und auch iBooks Author, das mit “Widget” Funktionen ein spezielles Integrationstool mitbringt, das gerade für dynamische Elemente gedacht ist. Aber auch hier gilt wieder: mehr Lehrbücher als Monographien.
Frage: Im Gespräch mit Harington meintest Du, dass e-Bücher eine hart zu knackende Nuss seien: EPUB dominiert, ist aber für komplexe Mathematik eher nutzlos. Und bei kommerziellen e-Büchern regiert Kindle, ein proprietäres Format mit intransparenten Tools und rätselhaften Bugs.
PK: Das Problem, das ich bei ebooks meinte, ist aber vor allem ein Problem des Ökosystems. Es ist durchaus möglich, hochqualitative und technisch reizvolle ebooks zu erstellen. Im Gegensatz zu Webdesign funktionieren die dann aber meist nur auf einigen mehr oder weniger spezialisierten Plattformen (siehe iBooks oben). Wichtig ist dabei, dass nichts auf Kindle geht: dort kann man noch nicht einmal zuverlässig “normale” Formeln hinbekommen, jedoch hat Kindle eine Marktmacht von 80-100%.
Das große Versprechen von epub(3), eine Datei für alle epub Reader bauen zu können, hat sich leider bisher in keiner Weise bewahrheitet. Die meisten Verlage erzeugen plattformspezifische Versionen oder produzieren etwas auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, d.h. meist was auch immer nach Konversion zum Kindle-Format dann auch dort funktioniert.
Frage: Was sind die Alternativen?
PK: Daher sehe ich die Zukunft eben in der Darstellung in Browser. Das ist schon schwer genug, aber immerhin hat man als Author sehr viel mehr Kontrolle über die Technologie.
Dort sieht man dann auch sehr spannende Entwicklungen. Die großen Tools wie Jupyter, Sage, R Studio bieten einfache wege, einen ersten Schritt zu machen. Spannend wird es bei experimentellen Projekten wie den Arbeiten Bret Victors oder z.B. Mike Bostocks Visualizing Algorithms.
Ein großes Problem bleibt TeX, das nunmal eine Programmiersprache für Printlayout ist und in vielerlei Hinsicht (technisch, vor allem aber auch sozial) eine Erstellung von Inhalten für das Web in der mathematischen Community blockiert. Aber das ist ein anderes Fass, das wir ein andermal öffnen sollten.
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