Das März-Heft des Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung ist der algebraischen Zahlentheorie gewidmet: neben einem Überblicksartikel zum Langlands-Programm gibt es einen Artikel von F. Lemmermeyer zum 120-ten Jubiläum des Hilbertschen “Zahlberichts”, der in Heft 4 des Jahrgangs 1897 in derselben Zeitschrift erschienen war. (Vermutlich war die Veröffentlichung des Jubiläumsartikels eigentlich für Heft 4 des vergangenen Jahres geplant?)
Der Zahlbericht hatte damals den aktuellen Stand der algebraischen Zahlentheorie aufbereitet, insbesondere die bis dahin als unzugänglich geltenden Beweise in den Arbeiten der Berliner Zahlentheoretiker erst verständlich und der zahlentheoretischen Forschung zugänglich gemacht. Zahlentheoretische Arbeiten in den folgenden Jahrzehnten bauten meist auf dem Zahlbericht auf und zitierten dann oft auch diesen und weniger die Originalarbeiten.
Satz 90
Beispielsweise stammt der bekannteste Satz aus dem Zahlbericht, Hilbert Satz 90, eigentlich von Kummer. Dessen Beweis war aber kompliziert und unverständlich, wogegen Hilbert einen einfachen algebraischen Beweis fand.
Satz 90 sieht zunächst einmal sehr abstrakt aus.
Sei eine zyklische Galoiserweiterung und
ein Erzeuger der zugehörigen Galoisgruppe. Dann ist jedes
mit Norm
von der Form
mit einem geeigneten .
Eine elementare Anwendung
Es ist wohl nicht unmittelbar einsichtig, warum das ein wichtiger Satz sein soll, er hat aber zahlreiche zahlentheoretische Anwendungen. Die vielleicht elementarste betrifft rechtwinklige Dreiecke mit ganzzahligen Seitenlängen.
Ein klassischer Fakt aus der antiken Zahlentheorie ist, dass alle pythagoräischen Zahlentripel, also alle ganzzahligen Lösungen der Gleichung
bis auf Multiplikation mit gemeinsamen Vielfachen von der Form
sind. Dafür gibt es natürlich direkte, elementare Beweise – man kann diese Formel aber auch als Folgerung aus Hilberts Satz 90 bekommen. (Was anscheinend erst von Noam Elkies erkannt wurde.)
Um den Satz 90 anzuwenden, setzt man und
. Aus
folgt, dass
die Norm 1 hat. Wegen Satz 90 gibt es dann ein
mit
. Durch Multiplikation mit einer geeigneten ganzen Zahl kann man
erreichen, also
mit ganzen Zahlen
. Man rechnet dann nach, dass
ist, woraus folgt, dass bis auf Multiplikation mit gemeinsamen Vielfachen von der Form
ist.
Weitere Entwicklungen
Satz 90 gibt also eine sehr algebraische Sicht auf diesen klassischen zahlentheoretischen Fakt, und es gibt einfache algebraische Beweise für diesen Satz, die durchaus nicht länger und komplizierter sind als die elementaren zahlentheoretischen Beweise.
Hilbert algebraischer Beweis war aber noch nicht das Ende der Algebraisierung dieses Satzes. Aus einer 1933 veröffentlichten Arbeit von Emmy Noether folgt, dass man Satz 90 konziser als einen Satz über Galois-Kohomologie formulieren kann: für jede Galoissche Körpererweiterung mit Galoisgruppe
gilt
Das wurde dann wiederum verallgemeinert in etaler Kohomologie, Grothendiecks wichtigstem Hilfsmittel in seinem Zugang zur algebraischen Geometrie. Für ein Schema und dessen etale Kohomologie gilt
Und schließlich bewies Voevodsky (nach vorher von Merkurjev, Suslin, Rost gelösten Spezialfällen) in der motivischen Kohomologie die Exaktheit der Sequenz
für normale Überlagerungen mit zyklischer Decktransformationsgruppe
und Erzeuger . Für
ist das die ursprüngliche Aussage von Satz 90. Weil sich algebraische K-Theorie von Körpern mittels motivischer Kohomologie interpretieren läßt, gibt dies auch eine Version von Hilbert Satz 90 in algebraischer K-Theorie und diese wiederum wurde dann ein wesentliches Argument in Voevodskys Beweis der Milnor-Vermutung.
Kommentare (8)