Wir sprachen über mathematische Beweisführungen, das Vierfarbentheorem, Aussagenlogik, Kierkegaard und bestimmte Sprachfiguren, tückische Hologramme, die auf den ersten Blick einfach wirkten, bei näherem Hinsehen aber hochkomplex wurden; Dieser Satz ist falsch beispielsweise oder Alle Griechen lügen, sagte der Grieche, das mußte dann soweit wie möglich aufgefasert werden; solche Sachen liebte er besonders.
(S.66 in der Rowohlt-Ausgabe von 2005)
Letzte Woche hatte ich hier etwas zur Mathematik in den Werken Durs Grünbeins geschrieben, die dort als Heilmittel gegen das Fieber der Verwirrten gesehen wird. Auch bei Uwe Tellkamp kommt Mathematik vor (Zitat oben), dort allerdings dient sie nicht dazu “die Vermessenheit zu heilen”, sondern ganz im Gegenteil driftet der vorgeblich von mathematischen Beweisführungen und Sprachfiguren begeisterte Philosoph durch die Bekanntschaft mit einem rechten Geschwisterpaar bald in den politischen Aktivismus ab:
– wir brauchen einen Krieg, Wiggo, und alle, die da jammern und kreischen und sich beschweren und heulen und mit den Zähnen klappern, wissen das im Grund, sind aber zu feige oder zu beschränkt, um es in voller Schärfe zu erkennen
(S. 102 in der Rowohlt-Ausgabe von 2005)
Ich hatte den Eisvogel, der ja damals 2005 teils enthusiastische Rezensionen erhielt, seinerzeit gekauft und bald wieder weggelegt. Wahrscheinlich war er mir einfach zu wirr, so recht erinnere ich mich nicht. Jedenfalls paßt auf das Zitat zu mathematischen Beweisführungen, was Gregor Dotzauer in seiner ursprünglich am 16.3.2005 im Tagesspiegel erschienenen Rezension sagte:
Zugleich wurstelt er sich durch viele Milieus, die Tellkamp gar nicht kennen kann. Mit dem Krankenhausbetrieb ist er als studierter Arzt vertraut, das Universum einer TV-Comedy-Show kennt er schon viel weniger. Das wirklich Ärgerliche ist, dass ihm das Metier seines Protagonisten, die Philosophie, nur unzureichend geläufig zu sein scheint: Viel mehr als Namedropping bringt er nicht zustande.
Tatsächlich ist nicht recht nachvollziehbar, wie man vom Vierfarbensatz auf die Aussagenlogik kommen könnte (eher ist der Satz ein klassisches Beispiel für die Problematik von Computerbeweisen, siehe TvF 16), Hologramme haben trotz des griechischen Namens nichts mit Philosophie zu tun, und das Paradoxon des Epimenides wird nicht mit Griechen, sondern mit Kretern erzählt. Natürlich sind das unwichtige Details, aber sie zeigen doch, dass der angebliche geistige Hintergrund von Tellkamps Helden einfach nur ein Potemkinsches Dorf ist – die vorgebliche Philosophie ist tatsächlich nur Namedropping oder ein argumentum ad verecundiam, wie Tellkamps Helden es wohl eher nennen würden.
Neben dem Vierfarbensatz und der Aussagenlogik findet man im Buch noch einen weiteren Bezug zur Mathematik, und auch dieser ist ein für den Mathematiker nicht recht nachvollziehbares argumentum ad verecundiam:
Denn Mittelmaß ist es, was die Demokratie erzeugt. Wie auch nicht. Schau dir den Glockenverlauf einer Gaußschen Kurve an. Ein für die Beschreibung von Lebensverhältnissen überhaupt sehr geeignetes statistisches Instrument.
(S. 200 in der Rowohlt-Ausgabe von 2005)
Eine schöne Zusammenfassung zu Tellkamps Buch hat jetzt – mit 13 Jahren Verspätung – Thomas Assheuer in der ZEIT geschrieben. Besonders irritiert ihn die von Tellkamp erfundene Geschichte des Professors, der Tellkamps Romanhelden der politischen Korrektheit opfert, obwohl er (wie der Romanheld dann herausfindet) eigentlich auch gerne ein rechter Deutscher wäre, dies nur wegen seiner Vergangenheit im KZ nicht werden konnte, und sich nun von den Ansichten seines Assistenten (des Romanhelden) öffentlich distanziert, obwohl er ihn heimlich unterstützen möchte.
woher rührt Wiggos Welthass? Er rührt von seinem jüdischen Professor, einem linksdrehenden Widerling, der seinen hochbegabten Assistenten Wiggo wegen rechtsabweichender Gedanken (“Sie sind ein Romantiker!”) in die Wüste geschickt hat. Tellkamps jüdischer Professor duldet keine anderen Götter neben sich, er lässt den deutschen Schüler nicht deutsch denken und deutsch fühlen. “Er ließ mich nicht leben. Er. Er.”
Doch dann der Schock. Als Wiggo auf Rache sinnt, erkennt er, dass der verhasste Professor ein Auschwitz-Überlebender ist, der heimlich Heidegger liest und sich sogar eine Weile der Widerstandsgruppe angeschlossen hatte. Was für eine Assimilationsfantasie: der Jude mit der “Vogelkopffrisur” als unerlöster linker Eisvogel, als verzauberter Deutschdenker, der freiwillig-unfreiwillig die deutsche Romantik verraten hat. Wie kommt Tellkamp darauf? Wen hat er gelesen, um so etwas zu schreiben?
Kommentare (65)