Aber auch ohne Hirnforschung ist natürlich unbestritten, dass Mathematiker Formeln auch einen ästhetischen Wert beimessen. Sir Michael Atiyah illustriert das in Vorträgen unter dem Titel “Beauty of Mathematics” an zwei Beispielen, der Geschichte der Eichinvarianz und der des Atiyah-Bott-Fixpunktsatzes. Bei der Eichinvarianz geht es um eine 1918 von Herrmann Weyl entwickelte Theorie, mit der Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie mit Maxwells Elektromagnetismus vereinigt werden sollte. Einstein als Gutachter wollte die Arbeit zurückweisen, weil die Theorie physikalisch falsch sei, Weyl bestand aber auf einer Veröffentlichung ihrer mathematischen Schönheit wegen und sie wurde dann auch gedruckt, mit Einsteins ablehnendem Gutachten im Anhang. Auch wenn die Theorie physikalisch falsch war, waren die von Weyl entwickelten Grundlagen der Eichinvarianz später in der Entwicklung der Quantenfeldtheorie von Bedeutung. Beim Atiyah-Bott-Fixpunktsatz hingegen hatten Zahlentheoretiker die Konsequenzen des Fixpunktsatzes für elliptische Kurven nicht glauben wollen, Atiyah und Bott waren aber ihrer Schönheit wegen von der Richtigkeit der Formel überzeugt und behielten damit auch recht.
Es wäre eine interessante epistemologische (oder eher kognitionspsychologische) Frage, warum in der Mathematik schöne Formeln oft auch richtig sind, während das in der Physik nicht immer der Fall zu sein scheint. Letzteres vertritt jedenfalls Sabine Hossenfelder in ihrem neuen Buch “Lost in Math”:
Theorien, von denen man annahm, dass sie wegen ihrer Eleganz nahezu zwangsläufig richtig sein müssten (wie etwa die sogenannte Supersymmetrie), würden durch die Experimente am LHC nicht bestätigt und bräuchten immer mehr Hilfsannahmen, um noch als richtig gelten zu können. Das Buch erscheint im September auf Deutsch unter dem Titel “Das hässliche Universum. Wie unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt”.
Satz 90
Das März-Heft des Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung war der algebraischen Zahlentheorie gewidmet: neben einem Überblicksartikel zum Langlands-Programm gab es einen Artikel von F. Lemmermeyer zum 120-ten Jubiläum des Hilbertschen “Zahlberichts”, der in Heft 4 des Jahrgangs 1897 derselben Zeitschrift erschienen war. (War die Veröffentlichung des Jubiläumsartikels eigentlich für Heft 4 des vergangenen Jahres geplant?)
Der Zahlbericht hatte damals den aktuellen Stand der algebraischen Zahlentheorie aufbereitet, insbesondere die bis dahin als unzugänglich geltenden Beweise in den Arbeiten der Berliner Zahlentheoretiker erst verständlich und der zahlentheoretischen Forschung zugänglich gemacht. Zahlentheoretische Arbeiten in den folgenden Jahrzehnten bauten meist auf dem Zahlbericht auf und zitierten dann oft auch diesen und weniger die Originalarbeiten.
Beispielsweise stammt der wohl bekannteste Satz aus dem Zahlbericht, Hilberts Satz 90, eigentlich von Kummer. Dessen Beweis war aber kompliziert und unverständlich, wogegen Hilbert einen einfachen algebraischen Beweis fand. (Inzwischen gibt es einfache Beweise in wenigen Zeilen.)
Sei eine zyklische Galoiserweiterung und
ein Erzeuger der zugehörigen Galoisgruppe. Dann ist jedes
mit Norm
von der Form
mit einem
.
Das sieht für sich genommen schon ziemlich abstrakt aus und die weiteren Anwendungen oder eher Verallgemeinerungen dieses Satzes gingen im 20. Jahrhundert natürlich in Richtung weiterer Abstraktion. Emmy Noether entdeckte 1933, dass man den Satz prägnanter in der Galois-Kohomologie formulieren kann: dort besagt er einfach , was (wie schon 1919 von Speiser bewiesen) für beliebige Galoiserweiterungen, nicht nur zyklische, gilt. Diese Formulierung wurde wiederum in Grothendiecks und M. Artins etaler Kohomologie verallgemeinert zu
für beliebige Schemata
und schließlich bewies Voevodsky (nach vorher von Merkurjev, Suslin, Rost gelösten Spezialfällen) in der motivischen Kohomologie die Exaktheit der Sequenz
für normale Überlagerungen mit zyklischer Decktransformationsgruppe und Erzeuger
. F\”ur
ist das die ursprüngliche Aussage von Satz 90. Weil sich algebraische K-Theorie von Körpern mittels motivischer Kohomologie interpretieren läßt, gibt dies auch eine Version von Satz 90 in algebraischer K-Theorie und diese wiederum wurde dann ein wesentliches Argument in Voevodskys Beweis der Milnor-Vermutung.
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