Neben dieser sehr abstrakten Anwendung fast hundert Jahre nach dem Zahlbericht gibt es auch eine sehr direkte Anwendung von Satz 90 in der elementaren Zahlentheorie, die erstaunlicherweise erst 1970 von Olga Taussky gefunden wurde.
Sie betrifft den sicherlich ältesten Satz der diophantischen Geometrie: alle pythagoräischen Zahlentripel, also alle ganzzahligen Lösungen der Gleichung
sind bis auf Multiplikation mit gemeinsamen Vielfachen von der Form
Dafür gibt es natürlich klassische Beweise – man erhält diese Formel aber auch als eine einfache Anwendung von Hilberts Satz 90.
Betrachte und
. Aus
folgt, dass
die Norm 1 hat. Wegen Satz 90 gibt es dann ein
mit
.
Durch Multiplikation mit einer geeigneten ganzen Zahl kann man erreichen, also
mit ganzen Zahlen
.
Man rechnet dann nach, dass
ist, woraus folgt, dass bis auf Multiplikation mit gemeinsamen Vielfachen von der Form
sein muss. Und da es inzwischen sehr kurze und elementare (wenn auch nicht offensichtliche) Beweise zu Satz 90 gibt, hat man damit einen Beweis der Klassifikation pythagoräischer Tripel, der auch nicht länger ist als der klassische.
Nun kann man im Sinne des im vorigen Abschnitt erwähnten Hirnscan-Experiments fragen, welche der beiden Anwendungen – die Milnor-Vermutung in algebraischer K-Theorie oder die Konstruktion pythagoräischer Zahlentripel – die schönere ist.
David Ruelle meinte dazu (in anderem Zusammenhang) in Kapitel 23 von “Wie Mathematiker ticken”:
Natürlich gehören das Wechselspiel und die Spannung zwischen Einfachheit und Komplexität auch zur Kunst und zur außerhalb der Mathematik liegenden Schönheit. Tatsächlich muss die Schönheit, die wir in der Mathematik sehen, mit der Schönheit verwandt sein, die unsere menschliche Wesensart an anderer Stelle erkennt. Die Tatsache, dass wir uns gleichzeitig von Einfachheit und Komplexität, von zwei entgegengesetzten Konzepten also, angezogen fühlen, kommt unserer unlogischen menschlichen Wesensart entgegen. Das Erstaunliche dabei ist jedoch, dass das Zusammentreffen von Einfachheit und Komplexität für die Mathematik wesenhaft ist; sie ist kein menschliches Konstrukt. Man kann daher sagen, dass die Mathematik aus diesem Grund schön ist: Sie verkörpert naturgemäß das Einfache und das Komplexe, nach dem wir uns sehnen.
Ein Wikisource-Projekt
Es gibt ein Projekt, Hilberts gesammelte Werke und insbesondere den Zahlbericht zu einer online verfügbaren Quelle zu machen – nicht als Digitalisat, sondern in TeX gesetzt. Das Projekt läuft schon einige Jahre und wird sicher noch einige Jahre benötigen; gesucht werden jederzeit Mitarbeiter und vor allem Korrekturleser, weil jede abgetippte Seite von zwei unabhängigen Lesern korrekturgelesen und bestätigt werden muss. Wer sich einfach mal als Korrekturleser einiger Seiten beteiligen will, sollte dies tun auf
https://de.m.wikisource.org/wiki/David_Hilbert_Gesammelte_Abhandlungen_Erster_Band_%E2%80%93_Zahlentheorie
Auch in der Wikipedia selbst gibt es noch viel zu tun.
Am Tag der Fieldsmedaillenverleihung gab es in de-WP weder einen Artikel über Caucher Birkar noch über perfektoide Räume. Beide wurden noch am selben Tag angelegt, wobei der Artikel über perfektoide Räume qualitativ noch viel Raum nach oben läßt. Auffällig in den Artikeln der Fieldsmedaillengewinner sind die vielen Rotlinks, also Hinweise auf noch nicht existierende Artikel. Etwa die “Quantum Unique Ergodicity” (im Artikel zu Venkatesh), oder die “Lokale Langlands-Korrespondenz” und das “Almost Purity Theorem” (im Artikel zu Scholze) oder die “Fano-Varietäten” im neuangelegten Artikel zu Birkar. Da werden noch Artikelschreiber benötigt.
Manchmal sind bei Wikipedia-Artikeln die Diskussionsseiten und Versionsgeschichten genauso interessant wie der Artikel. In der Versionsgeschichte des Artikels über die Fields-Medaille findet man, dass der Artikel im Februar 2016 zeitweilig einmal so aussah, dass die Preisträger jeweils unter der Fahne “ihres” Landes aufgeführt wurden.
Die Kriterien, nach denen diese Zuordnung erfolgte, waren freilich intransparent und nicht konsistent. So wurden etwa Konzewitsch und Wojewodski als Russen geführt, Shintung Yau oder Vaughan Jones hingegen als US-Amerikaner.
Kommentare (6)