Weite Verbreitung erreichte die Geschichte durch das Buch von Bell, dem auch sonst nachgesagt wird, lieber gute als unbedingt plausible oder historisch korrekte Geschichten erzählt zu haben. Bei Reid wiederum drängt sich der Eindruck auf, dass ihr die Geschichte von Zeitgenossen Hilberts zugetragen wurde, die wohl daran interessiert waren, den Vertreter der alten, konkreteren Mathematik gegenüber dem der neuen, abstrakten in einem schlechten Licht dastehen zu lassen: es wird – was sonst in dem Buch eigentlich nicht gemacht wird – explizit behauptet, Gordan habe durch sein Wirken die Entwicklung der Mathematik behindert und aufgehalten. Jedenfalls trägt Reid aber dazu bei, die Geschichte weiter auszuschmücken. So wird Gordan (1837-1912) – zu dem Reid ja 1970 wohl eher keine Zeitgenossen mehr interviewt haben kann – auch sonst als Hinterwäldler beschrieben, etwa in der Art: “In einem Café vor einem schäumenden Krug des berühmten Erlanger Bieres sitzend, umgeben von jungen Leuten, eine Zigarre in der Hand, redete er lautstark mit gewalttätigen Gesten, ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein. Ein einseitiger, impulsiver Mann. Wie fast immer sprach er von der Theorie der algebraischen Invarianten. Spaziergänge waren für ihn eine Notwendigkeit des Lebens. Wenn er allein ging, machte er lange Berechnungen in seinem Kopf und murmelte laut. Er kehrte oft ein und in Gesellschaft redete er die ganze Zeit.” (Ich habe die beiden Bücher nicht vorliegen und versuche also nur, aus dem Gedächtnis zu zitieren.)
Heutzutage ist Geschichte der Mathematik ein eigenes Forschungsgebiet und es gibt natürlich seriöse Mathematikhistoriker, die in solchen Geschichten jede Kleinigkeit hinterfragen, um dann letztlich plausiblere Geschichten schreiben zu können. Andererseits muß man wohl schon konstatieren, dass neuere mathematikgeschichtliche Werke heute keine so große Wirkung mehr entfachen wie das die Bücher von Bell und Reid seinerzeit getan haben sollen.
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