Gut, eigentlich geht es in diesem Beitrag nicht um die SPIEGEL-Reportagen, sondern, angeregt von Tobias’ Beitrag, um das Geschichtenerzählen in der Wissenschaftskommunikation und insbesondere der Wissenschaftsgeschichte.
Wenn es um die Popularisierung der Mathematikgeschichte geht, dann werden immer zwei Bücher genannt, die als erste und lange Zeit einzige das Geschichtenerzählen in die Mathematikgeschichte eingeführt und damit neuere mathematische Entwicklungen erstmals auch einem breiten Publikum außerhalb der Mathematik erschlossen haben. Das ist zum einen Men of Mathematics (1937) mit 34 Mathematikerbiographien von E. T. Bell, und zum anderen “Hilbert” (1970) von C. Reid über die Mathematik in Göttingen zur Zeit Hilberts.
Während bei Bell recht offensichtlich die gute Geschichte wichtiger war als die historische Wahrheit, hat sich Reid schon durchaus um sachliche Korrektheit bemüht, mußte sich dabei aber natürlich auf die Erzählungen der damals alle schon sehr alten Zeitzeugen verlassen, die ihr offenkundig die Geschichte oft mit vorgefertigten Narrativen erzählten.
Ein prägnantes Beispiel und inzwischen so etwas wie der Gründungsmythos der modernen, abstrakten, algebraischen und axiomatischen Mathematik ist die Geschichte der Invariantentheorie. Da hatte es im 19. Jahrhundert einen Erlanger Mathematiker gegeben, Paul Gordan, der ein Meister in der Manipulation langer algebraischer Ausdrücke war. Manche seiner Gleichungen erstreckten sich über mehrere Seiten. Und er soll sich angeblich komplett verweigert haben, als David Hilbert zu dieser Theorie dann einen algebraischen Zugang ganz ohne Rechnungen fand.
In der Invariantentheorie geht es um Invarianten von Polynomen, die unter linearen Transformationen invariant sind. Zum Beispiel ist für quadratische Polynome ax2+bxy+cy2 die Zahl b2-4ac invariant unter SL(2,R)-Transformationen und alle anderen Invarianten sind Vielfache dieser Zahl. Gordan hatte 1868 bewiesen, dass es für homogene Polynome in zwei Variablen auch in höheren Graden endlich viele Invarianten gibt, aus denen sich alle anderen Invarianten gewinnen lassen. Seine Versuche, dass auf Polynome mit drei und mehr Variablen auszudehnen, waren aber 20 Jahre lang nicht erfolgreich. Mit völlig neuen, abstrakten Methoden der kommutativen Algebra gelang dann 1888 Hilbert der Beweis im allgemeinen Fall. Sein Beweis war zunächst nicht konstruktiv, erst später fand er auch einen Algorithmus, mit dem man die erzeugenden Invarianten gewinnen kann. Die Arbeit gilt oft als Geburtshelfer der modernen Mathematik, weil auf Hilberts Methoden später die abstrakte Algebra (Noether,…) und die Neubegründung der algebraischen Geometrie (Zariski, Grothendieck,…) aufbauten.
Bei Bell und darauf aufbauend bei Reid las sich die weitere Geschichte nach Hilberts Entdeckung später dann so, dass Gordan die neuen Methoden Hilberts rundweg abgelehnt habe und zu der ihm zugeschickten Arbeit nur lapidar meinte “Das ist keine Mathematik, das ist Theologie!”, womit er ihren Abdruck in den Mathematischen Annalen verweigert hätte. Erst später, als man mit Hilberts Methoden dann doch einen konstruktiven Algorithmus fand, habe er eingeräumt, dass “auch die Theologie ihre Verdienste” habe.
Diese Geschichte kennt heute fast jeder Mathematiker, sie wurde in beiden Büchern als das Beispiel dafür hingestellt, wie die Kräfte des Alten versuchen, sich dem Neuen in den Weg zu stellen. Tatsächlich hat sie aber so nie stattgefunden. Gordan war in Wirklichkeit von Hilberts Arbeit sehr angetan und wollte sie nur deshalb nicht sofort in den Annalen veröffentlichen, weil er kleinere Fehler fand, die zunächst korrigiert werden sollten. Das Zitat mit der Mathematik und der Theologie ist, nach allem was man weiß, so nie gefallen. Es erschien erstmals ein Vierteljahrhundert nach dem Ereignis – also bald nach Gordans Tod – als unerklärter Nebenkommentar in einer Laudatio eines langjährigen Erlanger Kollegen. Eine Reihe von Göttinger Mathematikern nahm es in den folgenden Jahrzehnten auf. Die Geschichte war einfach zu schön und es störte auch nicht, dass jeder sie ein bißchen anders erzählte. Die Geschichte und Herkunft dieses “Gründungsmythos der modernen Mathematik” wurde erst 2007 von Colin McLarthy aufgearbeitet: Theology and its Discontents: the Origin Myth of Modern Mathematics.
Weite Verbreitung erreichte die Geschichte durch das Buch von Bell, dem auch sonst nachgesagt wird, lieber gute als unbedingt plausible oder historisch korrekte Geschichten erzählt zu haben. Bei Reid wiederum drängt sich der Eindruck auf, dass ihr die Geschichte von Zeitgenossen Hilberts zugetragen wurde, die wohl daran interessiert waren, den Vertreter der alten, konkreteren Mathematik gegenüber dem der neuen, abstrakten in einem schlechten Licht dastehen zu lassen: es wird – was sonst in dem Buch eigentlich nicht gemacht wird – explizit behauptet, Gordan habe durch sein Wirken die Entwicklung der Mathematik behindert und aufgehalten. Jedenfalls trägt Reid aber dazu bei, die Geschichte weiter auszuschmücken. So wird Gordan (1837-1912) – zu dem Reid ja 1970 wohl eher keine Zeitgenossen mehr interviewt haben kann – auch sonst als Hinterwäldler beschrieben, etwa in der Art: “In einem Café vor einem schäumenden Krug des berühmten Erlanger Bieres sitzend, umgeben von jungen Leuten, eine Zigarre in der Hand, redete er lautstark mit gewalttätigen Gesten, ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein. Ein einseitiger, impulsiver Mann. Wie fast immer sprach er von der Theorie der algebraischen Invarianten. Spaziergänge waren für ihn eine Notwendigkeit des Lebens. Wenn er allein ging, machte er lange Berechnungen in seinem Kopf und murmelte laut. Er kehrte oft ein und in Gesellschaft redete er die ganze Zeit.” (Ich habe die beiden Bücher nicht vorliegen und versuche also nur, aus dem Gedächtnis zu zitieren.)
Heutzutage ist Geschichte der Mathematik ein eigenes Forschungsgebiet und es gibt natürlich seriöse Mathematikhistoriker, die in solchen Geschichten jede Kleinigkeit hinterfragen, um dann letztlich plausiblere Geschichten schreiben zu können. Andererseits muß man wohl schon konstatieren, dass neuere mathematikgeschichtliche Werke heute keine so große Wirkung mehr entfachen wie das die Bücher von Bell und Reid seinerzeit getan haben sollen.
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