Im neuen SPIEGEL findet sich ein ungewöhnlich ausführliches Interview mit Michael Rapoport.
Es geht um unterschiedliche Typen von Mathematikern, verschiedene Anwendungen der Mathematik (Quaternionen, Knotentheorie, …), darum dass heute schon 16-Jährige mit komplexen Zahlen umgehen oder die Differentialrechnung erklären können, was vor 200 Jahren nicht einmal Berufsmathematiker geschafft hätten, weiter um die Nichtanwendbarkeit der Mengenlehre Georg Cantors und die Bedeutung von Grundlagen, um Rapoport-Zink-Räume und Kooperationen in der Mathematik, seine Herkunft aus der DDR und den Hang zur Skepsis, und dass sich niemand seiner mathematischen Taubheit schämen müsse – um nur einige der angesprochenen Themen aufzulisten.
Lesenswert ist das Interview vor allem, weil dort nicht die üblichen Standardformulierungen zur Mathematik und ihrem Sinn und Nutzen abgearbeitet werden, sondern stattdessen einmal die authentische Sicht des Mathematikers.
Das Interview gibt es leider nur im Bezahlangebot. Die folgenden Zitate vermitteln vielleicht einen kleinen Eindruck.
Über Quaternionen und ihre Anwendung in Robotersteuerung und Computerspielen:
[…] damals war das eine Sensation, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Überall in Europa, auch hier in Bonn, gab es Quaternionen-Klubs. Da trafen sich abends Laien und multiplizierten zum Vergnügen Quaternionen – ich verstehe das gut, mir machen solche Rechnereien auch Spaß. […] heute sind die Quaternionen auch nichts Exotisches mehr, sondern tief in die Mathematik eingebettet. Aber nach wie vor entdecken wir an diesen Gebilden bislang unbekannte Eigenschaften.
Über die Autonomie der Mathematik:
Ich erinnere mich an einen hochrangigen Fachmann, der es als höchste Leistung der Mathematik pries, dass sie die Fahrpläne der Berliner U-Bahn optimieren half. Aus dieser Warte werden wir Theoretiker nur gnädig geduldet.
Über immer komplizierter werdende Beweise:
Ja, die Schwierigkeiten nehmen zu, und ich hoffe, das liegt nicht an meinem Alter. Aber die jungen Leute werden auch immer besser ausgebildet. Wenn ich unsere Studenten daran messe, was ich damals gewusst habe – da sind Welten dazwischen.
Über den speziellen Charakter der Mathematiker:
Bei Anne Will habe ich neulich diesen Lungenarzt Köhler gesehen, der die Grenzwerte bei Stickoxiden angreift. Der Mann behauptet einfach, die Sache verhalte sich so und so. Ich glaube nicht, dass Sie einen guten Mathematiker finden würden, der sich so erstaunlich selbstgewiss präsentiert.
Über den Ewigkeitsanspruch mathematischer Erkenntnis:
Nehmen Sie die wichtige Klassenkörpertheorie, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bewiesen wurde. 70 Jahre lang waren die Kollegen damit beschäftigt, diese Theorie in eine allgemein akzeptable Form zu bringen. Leider stellte sich dabei heraus, dass das ursprüngliche Ziel aufgegeben werden musste, es erwies sich einfach als unfruchtbar. Trotzdem gibt es immer noch Leute, die daran forschen. Aber in der Gesamtschau hat das keinerlei Bedeutung mehr. Die Entwicklung ging über diese Gruppe hinweg.
Über das Mißverhältnis (59:1) zwischen Gewinnern und Gewinnerinnen der Fieldsmedaille:
Möglicherweise wirkt unser Milieu auf Frauen eher abweisend. Manche Kollegen bemühen sich ja geradezu, dem bereits erwähnten Klischee in Kleidung und Benehmen zu entsprechen. Wer sich hier schick zurechtmacht, wird oft scheel angesehen. Das gilt übrigens auch für Männer.
Über seine Herkunft:
Meine Entscheidung für die Mathematik traf allerdings bei meinen Eltern auf starken Widerstand. Sie schleppten sogar allerhand Leute an, die mir das ausreden sollten. […] Sie sagten, der Biologie gehöre die Zukunft, für die Mathematik gebe es ja nicht einmal einen Nobelpreis. Und sie glaubten, dieses Fach werde mich unglücklich machen – dieses ewige, einsame Ringen mit Problemen.
Über mathematisches Talent:
Das ist wie mit der Musikalität. Es scheint mir eher eine Inselbegabung zu sein, die mit allgemeiner Intelligenz wenig zu tun hat.
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