Wäre er noch am Leben gewesen, hätte keine ausgefeilte ästhetische Theorie mich schützen können – nicht vor einer Verleumdungsklage, nicht vor seinem Zorn.
Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montufar? Über Bücher. Rowohlt, 2005.
Die Vermessung der Wirklichkeit
So (Zitat oben) beschreibt Daniel Kehlmann in einem Essay seine Gedanken, als er (erst) kurz vor Ende der Arbeit an seinem Roman “Die Vermessung der Welt” zum ersten Mal Gauß’ Wirkungsstätte – die Göttinger Sternwarte – betrat.
Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten. Aus dem Wunsch heraus, die vorhandene nach seiner Vorstellung zu korrigieren, erfindet er eine zweite, private, die in einigen offensichtlichen Punkten und vielen gut versteckten von jener ersten abweicht. […] Zum Beispiel, die unerwartete Konfrontation mit einer sehr realen Maschine, entwickelt von jemandem, den er in manchen Augenblicken bereits für seine eigene Erfindung hielt.
In der Sternwarte habe er die Telegraphenanlage besichtigt, die in einer Szene des Romans vorkommt, wo der gebrechlich gewordene Gauß mit seinem Mitarbeiter Weber über diese Anlage kommuniziert, dabei aber eigentlich mehr mit sich selbst und mit bereits verstorbenen Kollegen spricht. Vor der Anlage stehend wird ihm unmittelbar klar, dass es solche Szenen nicht gegeben haben kann. Der Ausschlag der Nadel ist so schwach, dass der Empfänger ihn nur wahrnehmen würde, wenn er ihm – etwa durch einen Boten – vorher angekündigt worden wäre. Spontane Gedankensplitter eines alten Mannes konnten so also nicht übertragen werden, jedenfalls hätte sie niemand gehört. Kehlmann blieb für den Roman trotzdem bei seiner Version.
Narrativisierung in Journalismus und Forschung
Ende Dezember löste die Relotius-Affäre des SPIEGEL eine Diskussion über “schöpferischen Journalismus” (Alexander Wendt) aus. Im Nachhinein schien es eigentlich klar, dass diese Geschichten “von einer Glätte, Perfektion und Detailbesessenheit” (Giovanni di Lorenzo) waren, dass sie so eigentlich nicht passiert sein konnten. Dass es eigentlich nicht glaubhaft war, wenn Relotius etwa in den USA ein 99-jähriges Mitglied der Weißen Rose fünf Stunden lang interviewt haben wollte und diese dabei über die aktuellen Ereignisse in Deutschland auf dem Laufenden gewesen sei und diese mit passenden Kommentaren versieht. Oder wenn er in einer Kriegsreportage noch die genaue Anzahl der in einen bestimmten Keller führenden Stufen anzugeben vermag: 15. (Im SPIEGEL-Artikel über Relotius nach dessen Enttarnung wurde sogar dessen genaue Büronummer 09-161 erwähnt. Anscheinend geben exakte Zahlen dieser Art Reportage eine besondere Glaubwürdigkeit.)
Für die Wissenschaftskommunikation stieß die Affäre des SPIEGEL in eine bereits existierende Diskussion. Julika Griem, Vizepräsidentin der DFG, hatte (noch wenige Wochen vor dem Bekanntwerden der Relotius-Affäre) auf dem Forum Wissenschaftskommunikation die “Narrativisierung und Eventisierung” der Forschung beklagt.
Ist ein Modus, mit dem Ereignisse nicht nur chronologisch, sondern auch kausal so angeordnet werden, dass eine Ordnung aus Anfang, Mitte und Ende und ein Fluchtpunkt der Auflösbarkeit und Schließung entsteht, wirklich der einzig geeignete zur Vermittlung wissenschaftlicher Komplexität?
(Die Rede ist online auf www.dfg.de/download/pdf/dfg im profil/reden stellungnahmen/2018/181107_keynote_fwk18_griem.pdf)
Dagegen wandte sich Tobias Maier vom Karlsruher Institut für Wissenschaftskommunikation (nach Bekanntwerden der Relotius-Affäre) auf weitergen.de/2018/12/keine-geschichten-mehr-relotius-und-wissenschaftskommunikation/ gegen diejenigen, “die es immer schon wussten” und nun meinten, dass “die Reportage […] als Format ausgedient hat.”
Wer als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler Zielgruppen jenseits der eigenen Fachcommunity erreichen will, muss lernen, die sachliche Wohlfühlecke zu verlassen. Eine gute Geschichte bleibt eine gute Geschichte. Sie soll das erzählen, was die Daten aussagen. Und wahr muss sie sein.
Wahr oder nicht wahr
Oft sind es gerade die zweifelhaften und unbelegten Geschichten, die die größte Wirkung entfalten und die größte Bekanntheit erlangen. Hat Thales wirklich den Ägyptern erklärt, wie die Höhe der Cheops-Pyramide zu bestimmen sei? Mußte Carl Friedrich Gauß wirklich als Neunjähriger im Schulunterricht die Zahlen von 1 bis 100 addieren? Hat Hilbert schon 1891 von Tischen, Stühlen und Bierseideln gesprochen? Und stimmt es wirklich, dass er dem Minister Rust auf eine entsprechende Frage geantwortet habe, das Institut in Göttingen gebe es nicht mehr? (Für die erste Anekdote gibt es immerhin Hilberts eigene Bestätigung, für die zweite wohl nicht einmal das.) Hat Lorenz wirklich nur aus Versehen die letzten drei Nachkommastellen einzutippen vergessen? Glaubte Donaldson tatsächlich, er habe die Diagonalisierbarkeit aller positiv definiten, unimodularen quadratischen Formen bewiesen?
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