Das ist keine Mathematik!
In den 15 Beiträgen eines
2012 bei Princeton University Press unter dem auf Archimedes anspielenden Titel Circles disturbed. The interplay of mathematics and narrative. erschienenen Sammelbandes wird überwiegend mit viel Sympathie auf die Bedeutung von Narrativen für die Mathematik eingegangen. Allerdings wird in einem der Artikel (Theology and its Discontents: the Origin Myth of Modern Mathematics., urspr\”unglich verfa\ss t 2007 von Colin McLarty) auch die Geschichte und Herkunft eines “Gründungsmythos der modernen Mathematik” dekonstruiert.
Es geht um den Beweis des Basissatzes in der Invariantentheorie. Da hatte es im 19. Jahrhundert einen Erlanger Mathematiker gegeben, Paul Gordan, der ein Meister in der Manipulation langer algebraischer Ausdrücke war. Manche seiner Gleichungen erstreckten sich über mehrere Seiten. Und er soll sich angeblich komplett verweigert haben, als David Hilbert zu dieser Theorie dann einen algebraischen Zugang ganz ohne Rechnungen fand.
In der Invariantentheorie geht es um Invarianten von Polynomen, die unter linearen Transformationen invariant sind. Zum Beispiel ist für quadratische Polynome die Diskriminante
invariant unter den
-Transformationen der Variablen
, und alle anderen Invarianten sind Vielfache der Diskriminante. Gordan hatte 1868 bewiesen, dass es für homogene Polynome in zwei Variablen auch in höheren Graden endlich viele Invarianten gibt, aus denen sich alle anderen Invarianten gewinnen lassen. Seine Versuche, das auf Polynome mit drei und mehr Variablen auszudehnen, waren aber 20 Jahre lang nicht erfolgreich. Mit völlig neuen, abstrakten Methoden der kommutativen Algebra gelang dann 1888 Hilbert der Beweis im allgemeinen Fall. Sein Beweis war zunächst nicht konstruktiv, erst später fand er auch einen Algorithmus zur Konstruktion der erzeugenden Invarianten. Die Arbeit gilt oft als Geburtsstunde der modernen Mathematik, weil auf Hilberts Methoden später die abstrakte Algebra (Noether,…) und die Neubegründung der algebraischen Geometrie (Zariski, Grothendieck,…) aufbauten.
Die weitere Geschichte nach Hilberts Entdeckung wird in verschiedenen Lehrbüchern wie auch populären wissenschaftsgeschichtlichen Werken so dargestellt, dass Gordan die neuen Methoden Hilberts rundweg abgelehnt habe und zu der ihm zugeschickten Arbeit nur lapidar meinte “Das ist keine Mathematik, das ist Theologie!”, womit er ihren Abdruck in den Mathematischen Annalen verweigert hätte. Erst später, als Hilbert mit seinen Methoden dann doch einen konstruktiven Algorithmus fand, habe er eingeräumt, dass “auch die Theologie ihre Verdienste” habe.
In C. Reids Hilbert-Biographie wird diese Geschichte dann auf eine Art ausgeschmückt (und mit Bewertungen versehen), die durchaus an die Reportagen Relotius’ erinnert.
A one-sided, impulsive man, Gordan was to leave a curiously negative mark upon the history of mathematics; but he had a sharp wit, a deep capacity for friendship, and a kinship with youth. Walks were a necessity of life for him. When he walked by himself, he did long computations in his head, muttering aloud. In company, he talked all the time. He liked to “turn in” frequently. Then, sitting in some cafe in front of a foaming stein of the famous Erlangen beer, surrounded by young people, a cigar always in his hand, he talked on, loudly, with violent gestures, completely oblivious of his surroundings. Almost all of the time he talked about the theory of algebraic invariants.
[…]
The reaction of some mathematicians was similar to what must have been the reaction of the Phrygians to Alexander’s “untying” of the knot. They were not at all sure that he had untied it. […] Gordan himself announced in a loud voice that has echoed in mathematics long after his own mathematical work has fallen silent: “Das ist nicht Mathematik. Das ist Theologie.” Hilbert had now publicly taken a position in the current controversy provoked by Kronecker over the nature of mathematical existence. Kronecker insisted that there could be no existence without construction. For him, as for Gordan, Hilbert’s proof of the finiteness of the basis of the invariant system was simply not mathematics.
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