In Wirklichkeit war es allerdings ganz anders. Gordan war von Hilberts Arbeit sehr angetan und wollte sie nur deshalb nicht sofort in den Annalen veröffentlichen, weil er kleinere Fehler fand, die zuvor korrigiert werden sollten. Der Vergleich mit der Theologie sollte gerade seine Bewunderung ausdrücken. In schriftlicher Form erschien das Zitat erst nach Gordans Tod als Randnotiz in einer Laudatio Max Noethers. Eine Reihe von Göttinger Mathematikern nahm es in den folgenden Jahrzehnten auf. Die Geschichte war einfach zu schön und es störte auch nicht, dass jeder sie etwas anders erzählte.

Ein Primzahlknochen

Vor dem Naturkundemuseum in Brüssel steht ein Denkmal für eines der im Museum verwahrten Exponate, einen Knochen mit Einritzungen, die in Gruppen zu 19, 17, 13 und 11 Strichen (oder 5, 14, 17, 13 und 11 Strichen, je nach Sichtweise) angeordnet sind. Der Knochen stammt aus dem Kongo, ist etwa zweiundzwanzigtausend Jahre alt, und es ist natürlich bemerkenswert, dass Menschen damals schon bis 19 gezählt haben sollen. (Wobei diese Deutung aber durchaus umstritten ist.)

In Brüssel geht man allerdings noch weiter und behauptet, dass dieser Knochen sogar schon eine Beschäftigung mit Primzahlen belegt – es könne ja kein Zufall sein, dass dort alle Primzahlen zwischen 10 und 20 vorkommen. Nun hat mensch nach Stand der historischen Forschung ungefähr vor 2500 Jahren begonnen, sich mit Teilbarkeit zu befassen und eine Beschäftigung mit Primzahlen vor mehr als 20000 Jahren ist ungefähr so plausibel wie die These, dass Fermat die Modularität elliptischer Kurven vorhergesehen hat – da er ja eine der Folgerungen schon kannte – oder Pythagoras die Definition metrischer Räume, aber man wird wohl auch das Gegenteil nicht beweisen können. Trotzdem ist die Geschichte vom Primzahlknochen keine gut erfundene: was soll man aus ihr lernen?

Eine Schulbuchreihe und ihre Geschichte

Der Lambacher-Schweizer ist vermutlich die am längsten bestehende Schulbuchreihe. Dessen Geschichte geht in den Sommer 1945 zurück, als die Alliierten Wilhelm Schweizer anfragten, neue – von politischen Inhalten bereinigte – Mathematiklehrbücher für die gymnasiale Mittelstufe zu verfassen. Gemeinsam mit Theophil Lambacher verfaßte Schweizer dann bis 1947 drei Bände, die sich inhaltlich stark am bis dahin verwendeten {em Kölling-Löffler} orientierten, freilich ohne dessen Sachaufgaben. In den Folgejahren bis 1952 wurde dann unter Mitarbeiter verschiedener Autoren die Lehrbuchreihe komplettiert. 1958 entschloß sich der Verlag, die Reihe neu herauszubringen, Schweizer wurde alleiniger Herausgeber und inzwischen blickt die Lehrbuchreihe auf eine dreistellige Zahl an Büchern von sehr viel mehr (aktuell 80) Autoren zurück.

Erstaunliches über die Entstehung dieser Reihe erfuhr man vor einigen Jahren aus einem 11 DIN A4-Seiten langen Interview mit einem damals 97-jährigen Emeritus, erschienen im Mitgliederblatt eines deutschen Fachverbandes.

Theophil Lambacher hatte nur die Lizenz beschafft, weil er politisch eine blütenweiße Weste hatte. Wilhelm Schweizer hingegen ist nach 1945 aus dem Schuldienst entfernt worden. […] Zu dem berühmten Lehrwerk hat Lambacher so gut wie nichts beigetragen.

In der nach dem Tod des Interviewten geschriebenen Übersetzung wurde der letzte Satz dann noch “verbessert” zu “He contributed nothing at all to the textbook mentioned above.”

Anders als beim Ishango-Knochen ist hier jedenfalls klar, was der Leser aus der Geschichte lernen soll. Aber – ebenfalls anders als beim Ishango-Knochen – läßt sich hier durchaus noch herausfinden, wie es wirklich gewesen ist. Zur Geschichte des “Lambacher Schweizer” gibt es eine von Jörg Stark recherchierte und 2011 vom Klett-Verlag herausgebrachte Broschüre mit einer Reihe von Original-Dokumenten (online auf
www.klett.de/sixcms/media.php/185/Festschrift_LS65_Internet.pdf). Aus diesen Dokumenten ergibt sich eine völlig andere Geschichte. Schweizer ist 1945 keineswegs aus dem Schuldienst entlassen worden. Er war seit 1943 in einem Forschungsprojekt beschäftigt und wurde gleich nach Kriegsende stellvertretender Schuldirektor. Nach seinen online vorliegenden Erinnerungen war es ein Vertreter eines vom neuen Kultusministerium eingesetzten Ausschusses, welcher ihn darum bat oder eher dazu drängte, neue Lehrbücher zu verfassen weil die alten “politisch verseucht” seien und von den Alliierten nicht genehmigt würden. Lambacher wurde also keineswegs (nur) benötigt, um die Lizenz zu erhalten, und dessen politische Haltung – er war Gründungsmitglied der lokalen CDU – spielte dafür auch keine Rolle. Und schließlich handelte es sich nicht um ein “textbook”, sondern eine ganze Buchreihe.

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Kommentare (5)

  1. #1 Frank
    Bellem
    18. Februar 2019

    Schöner Artikel, danke Thilo,

    ob auf dem Knochen absichtlich die Primzahlen von 10 bis 20 eingerizt worden sind, Gauss die Summenformel der Zahlen von 1 bis 2n als Kind im Unterricht entdeckte, Phythagoras seinen Satz selbst entdeckte (Was umstritten ist.), oder ob Leibnitz von Newton abgeschrieben hat, oder Hilbert gesagt hat: “Die deutsche Mathematik gibt es nich mehr.” (Wo er ja recht hatte.), wird sich entgültig nie klären lassen. Ich frage mich allerdings, ob es auf den definitiven Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen ankommt, meiner Meinung nach haben und werden gerade diese Behauptungen die Neugierde junger Menschen zur Mathematik fördern.

    Bemerkung zum Absatz “Das ist keine Mathematik!”: Ich glaube mal gelesen zu haben, dass ein ähnlicher Satz auf einer Solvay-Konferenz, wo auch Albert Einstein teilgenommen hat gefallen ist, dort lauteter er: “Das ist keine Physik, dass ist Theologie!”
    Da ging es um die Anfänge der Quantenphysik.

    Schöne Grüsse an alle Freunde dieses Blogs

    Frank

  2. #2 regow
    20. Februar 2019

    “Ist ein Modus, mit dem Ereignisse nicht nur chronologisch, sondern auch kausal so angeordnet werden, dass eine Ordnung aus Anfang, Mitte und Ende”
    Das ist auch das Problem der Vermittlung von Geschichte, insbesondere der Zeitgeschichte, wo man glaubt einen unentrinnbaren roten Faden zu erkennen – und man versteht nicht, warum damals nicht schon alle gewußt haben was passieren wird.

  3. #3 hubert taber
    21. Februar 2019

    auch gauß konnte mit dem begriff unendlich nicht umgehen.
    wie viele andere auch.
    siehe unter:
    https://scienceblogs.de/mathlog/2019/01/25/der-gefangene-springer/#comment-238821

    auch gauß schaffte nicht die quadratur des kreises.
    nur mit zirkel und lineal.
    ich schon.
    mfg. hubert taber

  4. #4 bote19
    22. Februar 2019

    Kleiner Spaß Hubert, bist du das Gespenst ?

  5. #5 hubert taber
    23. Februar 2019

    nein.
    ich bin derjenige der selbsternannten “experten” die in wahrheit in einem narrenturm agieren die dummheit und deren scheinlogik austreibt.
    google “hubert taber”
    mfg.h.t.