Killing hatte damit die Klassifikation der einfachen Lie-Algebren auf die Klassifikation der Wurzelsysteme zurückgeführt. Um die Wurzelsysteme zu klassifizieren, betrachtete er die Matrix mit Einträgen cα,β, wobei α und β die einfachen Wurzeln durchläuft. Diese Matrix wird heute als Cartan-Matrix bezeichnet. Ihre Diagonaleinträge sind cα,α=2 und alle anderen Einträge sind nichtpositiv: cα,β≤0. Aus den Eigenschaften eines Wurzelsystems kann man aber noch mehr beweisen, insbesondere cα,βcβ,α≤3 was die Möglichkeiten für die ganzzahligen cα,β sehr einschränkt.
Es gelang Killing dann, alle möglichen Cartan-Matrizen, mithin alle möglichen Wurzelsysteme und somit alle einfachen Lie-Algebren zu klassifizieren. (Womit er insbesondere auch die bis dahin nicht bekannten einfachen Lie-Algebren fand.)
Heutzutage verwendet man Dynkin-Diagramme zur Klassifikation der Cartan-Matrizen. Das sind Graphen, deren Knoten den positiven Wurzeln entsprechen und bei denen jeweils cα,βcβ,α≤3 Kanten zwischen den α und β entsprechenden Knoten eingezeichnet sind. Aus den Eigenschaften der Cartan-Matrix kann man Eigenschaften des Dynkin-Diagramms herleiten: zum Beispiel ist es immer ein Baum, drei parallele Kanten kann es nur für das Diagramm G2 geben usw. Letztlich bekommt man so mit kombinatorischen Argumenten die obige Liste der möglichen Dynkin-Diagramme eines Wurzelsystems.
Killing verwies in der Einleitung seiner Arbeit darauf, dass er die Terminologie Lies benutze, die der Leser in den Arbeiten Engels nachschlagen könne. (Lies Arbeiten hatten lange als unverständlich gegolten, erst nachdem Felix Klein seinen Leipziger Assistenten Friedrich Engel an Lie “ausgeliehen” hatte und dieser mit Lie ein dreibändiges Werk über Transformationsgruppen verfaßte, änderte sich das.) Killing hatte mit Engel in Briefkontakt gestanden und daraus erst Lies Begrifflichkeiten gelernt. Lie, der lange erfolglos an der Klassifikation von Lie-Algebren gearbeitet hatte, fühlte sich nach Erscheinen von Killings Arbeit betrogen und beschwerte sich bei Felix Klein als zuständigem Herausgeber, dass Engel seine Ideen freigiebig verteile und andere wie Killing sie deshalb jetzt ohne seine Erlaubnis für ihre Arbeit verwenden würden. Einen solchen Vertrauensmißbrauch habe er nicht für möglich gehalten. Außerdem sei Killings Arbeit voller Fehler.
Killings Arbeit war jedenfalls schwer lesbar, aber schon fünf Jahre später wurde in Élie Cartans Dissertation der Beweis noch einmal in sehr viel lesbarerer Form aufbereitet. Das führte dazu, dass Leute später nur noch Cartan und nicht das Original lasen. Obwohl Cartan die Prioritäten klar angegeben hatte, geriet Killings Arbeit über längere Zeit in Vergessenheit oder galt jedenfalls als voller Fehler, was sich auch in der Benennung der Cartan-Unteralgebren und Cartan-Matrizen nach Cartan zeigte, während Cartans einziger eigener Beitrag, die Killing-Form, kurioserweise nach Killing benannt wurde.
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wilhelm_Karl_Joseph_Killing.jpeg
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