Seit Descartes verwendet man Koordinatensysteme, um die Geometrie zu algebraisieren, also geometrische Probleme auf algebraische Berechnungen zurückzuführen. In der auf Hermann Minkowski zurückgehenden „Geometrie der Zahlen“ geht es umgekehrt darum, zahlentheoretische Sätze mit einfachen geometrischen Argumenten zu beweisen.

Der Startpunkt von Minkowskis Theorie war der folgende Satz, mit dem er eine schwächere Ungleichung von Hermite verbesserte:
Zu einer quadratischen Form Q in n Variablen gibt es einen ganzzahligen Vektor x≠0 mit Q(x,x)\le   4\sqrt[n]{\frac{det(Q)}{V_n^2}}.
(Hier bezeichnet Vn das Volumen der n-dimensionalen Einheitskugel und det(Q) die Determinante der zu der quadratischen Form assoziierten symmetrischen Matrix.)

Beweis: Q kann bekanntlich durch eine Matrix A mit det(A)=\sqrt{det(Q)} diagonalisiert werden, so dass Q(A^{-1}x)=\Vert x\Vert^2. Durch A wird also das Ellipsoid Q(x,x)≤C in die Kugel vom Radius √C abgebildet.

Diese lineare Abbildung bildet das ganzzahlige Gitter Zn in ein Gitter L ab, dessen Fundamentalbereich Volumen det(A) hat.

Sei M=\min\left\{\vert x\vert:x\in L, x\not=0\right\}. Die Kugeln der Kantenlänge \frac{M}{2} um die Gitterpunkte sind dann disjunkt. Insbesondere ist ihr Volumen kleiner als das Volumen des Fundamentalbereichs. Also (\frac{M}{2})^n V_n\le det(A), woraus die Ungleichung M\le 2\sqrt[n]{\frac{det(A)}{V_n}} folgt.

Es gibt also einen Punkt x in Zn, dessen Bild unter A in der Kugel vom Radius R=2\sqrt[n]{\frac{\sqrt{detQ)}}{V_n}} liegt. Damit gilt für x die Ungleichung Q(x,x)≤R2.

Mit einem analogen Argument bekommt man, dass eine um einen Gitterpunkt (z.B. 0) gelegte Kugel vom Radius M/2 noch einen weiteren Gitterpunkt enthalten muß, wenn die Ungleichung MnVn > det(Q) erfüllt ist.
Allgemeiner betrachtet Minkowski für ein Gitter L einen zum Nullpunkt symmetrischen, beschränkten und konvexen Körper K. Wenn dann die Ungleichung vol(K)>2nvol(L) erfüllt ist, wobei mit vol(L) wieder das Volumen des Fundamentalbereichs des Gitters gemeint ist, dann gibt es zwangsläufig mindestens einen (weiteren neben 0) Gitterpunkt in K.
Beweis: Weil K größeres Volumen als das Gitter 2L hat, gibt es in K zwei Punkte p und p+2l für einen Gitterpunkt l. Dann ist wegen der Symmetrie um den Nullpunkt auch -p-2l in K, und wegen der Konvexität auch (p+(-p-2l))/2=-l. Also gibt es einen Gitterpunkt in K.

Dieser Satz wird als Minkowskis Gitterpunktsatz bezeichnet und mit diesem, wie ihn Minkowski in einem Brief an Hilbert bezeichnete, „lächerlich einfachen Beweis“ bekam er dann kurze Beweise für verschiedene klassische Sätze der Zahlentheorie.
Das vielleicht überzeugendste Beispiel ist der sehr kurze Beweis des auf Euler zurückgehenden Satzes, dass jede Primzahl der Form 4k+1 als Summe zweier Quadratzahlen zerlegt werden kann. Der Beweis geht wie folgt: zu einer Primzahl p=4k+1 gibt es ein u mit u2=-1 mod p. Man betrachtet nun das Gitter aller ganzen Zahlen (x,y) mit y=ux mod p. Die Fläche eines Fundamentalbereichs ist p. Man erhält aus dem Gitterpunktsatz, dass es einen Gitterpunkt mit x^2+y^2\le \frac{4p}{\pi} gibt. Andererseits folgt aus u2=-1 mod p, dass x2+y2=(u2+1)x2 mod p = 0 mod p. Die einzige durch p teilbare Zahl, welche die Ungleichung erfüllt, ist p. Also x2+y2=p.

Mit dem Gitterpunktsatz bekam Minkowski eine Reihe weiterer kurzer Beweise zu klassischen Sätzen der Zahlentheorie:
– der Lagrangesche Vierquadratesatz (1770), demzufolge sich jede natürliche Zahl als Summe von vier Quadratzahlen zerlegen läßt,
– der Dirichletsche Einheitensatz (1837) demzufolge die Einheitengruppe im Ganzheitsring eines Zahlkörpers K den Rang r+s-1 hat, wobei r die Anzahl der Einbettungen K—>R und s die Anzahl der Paare komplex-konjugierter Einbettungen K—>C ist,
– der Dirichletsche Approximationssatz (1842), demzufolge es zu jeder Zahl x unendlich viele rationale Zahlen p/q mit |x-p/q| < 1/q2 gibt. (Hurwitz verbesserte 1891 noch die rechte Seite zu 1/√5q2. Das Ergebnis ist optimal in dem Sinne, dass es für algebraische Zahlen x zu jedem c>0 nur endlich viele p/q mit |x-p/q| < 1/q2+c gibt, was 1955 von K. F. Roth bewiesen wurde.)

Neben diesen damals schon bekannten Sätzen bekam Minkowski aber auch einen neuen Satz, die Endlichkeit der Klassenzahl.

Bei der Bestimmung der Klassenzahl ging es ursprünglich um die Anzahl der Äquivalenzklassen quadratischer Formen ax2+bxy+cy2 mit ganzzahligen Koeffizienten a,b,c. Gauß hatte in den „Disquisitiones Arithmeticae“ ausführlich die Frage untersucht, welche natürlichen Zahlen sich als Werte einer gegebenen quadratischen Form darstellen lassen. (Das verallgemeinert den oben erwähnten Satz, dass eine natürliche Zahl genau dann Summe zweier Quadratzahlen ist, wenn ihre Primfaktoren alle kongruent 1 modulo 4 sind.) Zu diesem Zweck hatte er quadratischen Formen in gewisser Weise klassifiziert. Er hatte zwei quadratische Formen (mit ganzzahligen Koeffizienten) als äquivalent betrachtet, wenn sie sich durch Transformation mit einer Matrix in SL(2,Q) ineinander überführen lassen, also durch einen Basiswechsel mit rationalen Koeffizienten. Für diesen Äquivalenzbegriff hatte er dann bewiesen, dass es zu jeder gegebenen Zahl D nur endlich viele Äquivalenzklassen quadratischer Formen mit Diskrimante D gibt, wobei die Diskriminante einer quadratischen Form definiert ist als D=ac-b2.
Eine stärkere Äquivalenzrelation bekommt man, wenn man nur Basiswechsel mit ganzzahligen Koeffizienten zuläßt, also Transformationsmatrizen mit Koeffizienten in SL(2,Z). Aus dem Gitterpunktsatz (bzw. bereits aus der auf Hermite zurückgehenden schwächeren Variante des Gitterpunktsatzes) folgt, dass es auch in diesem Sinne nur endlich viele Äquivalenzklassen quadratischer Formen mit gegebener Diskriminante D gibt. Dirichlets Klassenzahlformel berechnet die Klassenzahl über das Residuum der Zetafunktion in 1 oder in Dirichlets ursprünglicher Formulierung über den Wert L(1,χD) der L-Funktion des Dirichlet-Charakters χD.

Die Frage nach der Klassifikation quadratischer Formen läßt sich auch formulieren und dann verallgemeinern in der Sprache der Körper und Ideale. Zu einer quadratfreien Zahl D betrachtet man den Körper K=Q(√D) und dessen Ganzheitsring OK. Der ist entweder Z[√D], falls D kongruent 2 oder 3 modulo 4, oder Z[(1+√D)/2], falls D kongruent 1 modulo 4. Es gibt eine (auf Dedekind zurückgehende) Bijektion zwischen Idealen in diesem Ganzheitsring und quadratischen Formen der Diskriminante D: der quadratischen Form ax2+bxy+cy2 wird das von a und (-b+√D)/2 erzeugte Ideal zugeordnet. Äquivalente quadratische Formen entsprechen dabei Idealen, die sich durch Multiplikation mit einem Hauptideal ineinander überführen lassen. Man definiert die Idealklassengruppe des Zahlkörpers als Gruppe der Ideale modulo der Äquivalenzrelation I~J für aI=bJ (a,b∈OK), und die Klassenzahl als die Anzahl ihrer Elemente. (Diese Gruppe ist von zentraler Bedeutung in der algebraischen Zahlentheorie, zum Beispiel ist die Primfaktorzerlegung in OK genau dann eindeutig, wenn die Klassenzahl 1 ist.)

In K=Q(√D) entspricht die Idealklassengruppe den Äquivalenzklassen quadratischer Formen mit Diskriminante D. Gauß Problem findet also eine natürliche Verallgemeinerung in der Endlichkeit der Idealklassengruppe für beliebige Zahlkörper. Mit dem Gitterpunktsatz kann man die Endlichkeit beweisen und weitere Informationen über die Größe der Idealklassengruppe bekommen.

Wie kann man den Gitterpunktsatz auf die Berechnung der Klassenzahl anwenden?
Für einen Zahlkörper K sei r die Anzahl der Einbettungen K—>R und s die Anzahl der Paare komplex-konjugierter Einbettungen K—>C. Für einen quadratischen Zahlkörper K=Q(√D) ist r=2,s=0 falls D>0 und r=0,s=1 falls D<0. Man hat dann (mittels der r+s verschiedenen Einbettungen) eine Einbettung von OK als Gitter in Rr+s. Diese Einbettung von OK als Gitter ist die Grundlage für zahlreiche Anwendungen des Gitterpunktsatzes in der algebraischen Zahlentheorie.
Das Bild unten zeigt den Fall K=Q(√2), also die Einbettung von Z[√2] als Gitter in R2: x+y√2 wird auf (x+y√2,x-y√2) abgebildet. Das Bild zeigt dann die Punkte (\log\vert x+y\sqrt{2}\vert,\log\vert x-y\sqrt{2}\vert). Die Einheitengruppe liegt auf der blau gezeichnete Gerade, man sieht die durch Dirichlets Einheitensatz gegebene Einbettung der Einheitengruppe als Gitter in R1. Der Erzeuger der Einheitengruppe ist 1+√2, was auf (\log\vert 1+\sqrt{2}\vert,\log\vert 1-\sqrt{2}\vert)=(0,881\ldots,-0,881\ldots) abgebildet wird. In diesem Beispiel kann man auch ohne den Dirichletschen Einheitensatz sehen, dass die Einheitengruppe ein Gitter und ihr Rang also 1 ist. Andernfalls würde sie nämlich dicht liegen, dann gäbe es Einheiten x+y√2 nahe 1, womit auch das Inverse x-y√2 nahe 1 und womit die Differenz 2y√2 nahe 0 wäre, ein offensichtlicher Widerspruch.

Mit dem Gitterpunktsatz konnte Minkowski beweisen, dass es in einem Zahlkörper K der Diskriminante dK in jeder Idealklasse ein Ideal I mit [OK:I]≤(2/π)s√dK gibt. Falls diese Zahl kleiner als 2 ist, muss OK ein Hauptidealring und die Primfaktorzerlegung also eindeutig sein.
Beispielsweise für K=Q(√-5) weiß man, dass die Primfaktorzerlegung nicht eindeutig ist, etwa ist 2.3=(1+ √-5)(1–√ -5). Die rechte Seite der von Minkowski bewiesenen Ungleichung ist 2,85…, es gibt also jedenfalls in jeder nichttrivialen Idealklasse ein Ideal mit [OK:I]=2. Man kann zeigen, dass die einzige nichttriviale Idealklasse zu dem von 1+√-5 und 2 erzeugten Ideal gehört.
Mit Minkowskis Resultat hat man insbesondere eine obere Schranke MK, so dass es in jeder Idealklasse ein Ideal der Norm kleiner als MK gibt. Weil es in OK nur endlich viele Ideale der Norm kleiner MK gibt, folgt daraus die Endlichkeit der Klassenzahl.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hermann_Minkowski_Portrait.jpg

Kommentare (4)

  1. #1 Frank Wappler
    16. September 2019

    Thilo schrieb (12. September 2019):
    > [… Zahlen (x, y) mit y \equiv u \, x \, \text{mod} \, p. ]

    > [… dass x^2 + y^2 \equiv (u^2 + 1) \, x \, \text{mod} \, p ]

    Gemeint war stattdessen vermutlich, dass x^2 + y^2 \equiv (u^2 + 1) \, x^2 \, \text{mod} \, p.

    p.s.
    Scienceblogs-HTMl-Test-1:

    “x<sup>2</sup> + y<sup>2</sup>” wird dargestellt als: “x2 + y2”.

    Scienceblogs-HTMl-Test-2:
    “343 ≡ 1 mod 9” wird dargestellt als: “343 ≡ 1 mod 9”.

  2. #2 Frank Wappler
    16. September 2019

    Thilo schrieb (12. September 2019):
    > [… Zahlen (x, y) mit y \equiv u \, x \, \text{mod} \, p. ]

    > [… dass x^2 + y^2 \equiv (u^2 + 1) \, x \, \text{mod} \, p ]

    Gemeint war stattdessen vermutlich, dass x^2 + y^2 \equiv (u^2 + 1) \, x^2 \, \text{mod} \, p.

    p.s.
    Scienceblogs-HTMl-Test-1:

    “x<sup>2</sup> + y<sup>2</sup>” wird dargestellt als: “x2 + y2”.

    Scienceblogs-HTMl-Test-2:

    “343 &amp;#8801; 1 mod 9” wird dargestellt als: “343 ≡ 1 mod 9”.

  3. #3 Thilo
    16. September 2019

    Ja, natürlich. Danke für den Hinweis.

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