Carl Friedrich Gauß wird nachgesagt, er hätte in freien Momenten gerne mal Primzahlen gezählt und wäre so schon als 15-jähriger auf die Vermutung gekommen, die Anzahl der Primzahlen kleiner N sei asymptotisch gleich N/ln(N), oder (mit einer viel besseren Näherung) asymptotisch gleich Li(N), dem (uneigentlichen) Integral von 1/ln(x) über das Intervall von 0 bis N. (Statt 0 kann man auch einen anderen Startwert nehmen, was an der Asymptotik nichts ändert.)
In seiner 1859 als Antrittsvorlesung bei der Berliner Akademie der Wissenschaften eingereichten Arbeit “Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe” hatte Bernhard Riemann den Zusammenhang zwischen der Primzahlverteilung und den Nullstellen der (vorher in anderem Zusammenhang von Leonhard Euler betrachteten) Zeta-Funktion hergestellt. Er hatte behauptet, dass der Primzahlsatz äquivalent dazu ist, dass die Zetafunktion keine Nullstellen mit Re(s)=1 hat, und dass man die bestmögliche Ungleichung für den Fehler der Approximation durch Li(N) bekäme, wenn alle nicht-trivialen (d.h. nicht negativ-geradzahligen) Nullstellen der Zetafunktion auf der Geraden Re(s)=1/2 liegen. Riemann war freilich ein sehr intuitiver Mathematiker und seine Arbeit enthielt keinerlei Beweise, nicht einmal für den Zusammenhang zwischen Primzahlverteilung und Zetafunktion. (Man weiß allerdings durch Carl Ludwig Siegels Beschäftigung mit Riemanns nachgelassenen Notizen, dass Riemann auch über die analytischen Eigenschaften der Zetafunktion sehr viel mehr wußte als sich in seiner Veröffentlichung findet.) Die Äquivalenz der Riemannschen Vermutung zur Abschätzung des Fehlers der Näherung, sowie die Äquivalenz der schwächeren Aussage Re(s) < 1 (für alle Nullstellen s der Zetafunktion) zum Primzahlsatz bewies erst 1895 Hans von Mangoldt. (Wegen der Euler-Produkt-Darstellung der Zetafunktion ist klar, dass es keine Nullstellen mit Re(s)>1 geben kann, so dass man für den Beweis des Primzahlsatzes dann nur noch Re(s)=1 ausschließen muß.)
1890 hatte die Académie des Sciences auf Initiative Hermites einen Preis ausgeschrieben für Beweise zu Riemanns damals schon mehr als 30 Jahre alter Arbeit.
Jacques Hadamard hatte sich für seine Dissertation 1892 ganz allgemein mit Reihen und ihren analytischen Fortsetzungen beschäftigt. Für Potenzreihen Σn anxn fand er die Formel für ihren Konvergenzradius R. Es stellte sich dann heraus, dass diese Formel schon Cauchy 70 Jahre früher bekannt gewesen war, aber jedenfalls hatte Hadamard als erster einen Beweis aufgeschrieben. Im Weiteren leitete er dann eine Reihe von tiefgreifenden Ergebnissen über Singularitäten (von Potenzreihen auf dem Rand ihres Konvergenzkreises) ab, welche der Fortsetzbarkeit der Potenzreihen auf dem Rand des Konvergenzkreises entgegenstehen.
Hermite hatte Hadamard nach seiner Doktorprüfung darauf hingewiesen, dass er Anwendungen für die von ihm entwickelte allgemeine Theorie finden solle. Tatsächlich ließen sich die Resultate von Hadamards Dissertation dann auf die Zetafunktion anwenden und Hadamard gewann dadurch mit seiner Dissertation den von der Akademie 1890 ausgeschriebenen Preis, auch wenn er natürlich nicht die Riemann-Vermutung beweisen konnte, sondern nur einige andere Behauptungen aus Riemanns Arbeit, insbesondere Riemanns heute als Weierstrass-Hadamard-Produkt bezeichnete Produktformel für die Zetafunktion als Spezialfall einer von Hadamard allgemein für holomorphe Funktionen entwickelten Produktformel. (Die eigentliche Motivation für die Preisausschreibung war wohl die Ankündigung Stieltjes’ gewesen, einen Beweis der Riemann-Vermutung zu haben, den er aber erst noch aufschreiben müsse. Stieltjes, damals Professor in Toulouse, starb 1894 im Alter von 38 Jahren und man weiß bis heute nicht, ob er nicht vielleicht doch einen Beweis hatte.)
Hadamard war produktiv in ungewöhnlich vielen unterschiedlichen Bereichen der Mathematik und schrieb in den vier Jahren von 1892 bis 1896 neunundzwanzig verschiedene Arbeiten. Innerhalb kurzer Zeit bewies er eine wichtige Ungleichung für Determinanten, den Dreikreisesatz der Funktionentheorie, und die Instabilität beschränkter Geodäten gegenüber Anfangsbedingungen auf Flächen negativer Krümmung: in jedem Punkt bilden die Richtungen beschränkter Geodäten (periodische und asymptotisch periodische) eine abzählbare, perfekte, total unzusammenhängende und nirgends dichte Menge. Auch hier ging es wieder um eine Preisaufgabe der Akademie, die erstmals nicht nur lokale, sondern auch globale Eigenschaften von Geodäten untersucht haben wollte und wofür er (unabhängig von Mangoldt) die 2-dimensionale Version des Satzes von Cartan-Hadamard bewies.
Nachdem von Mangoldt 1895 die Äquivalenz des Primzahlsatzes zu der sehr viel schwächeren Version der Riemann-Vermutung bewiesen hatte, war der Weg frei für einen analytischen Beweis, der ein Jahr später Hadamard und (mit einer einige Wochen früher veröffentlichten Arbeit) dem Belgier Charles-Jean de la Vallée Poussin gelang, wobei Hadamards Beweis als der einfachere galt. (Ungewöhnlicherweise gab es wegen dem Primzahlsatz nie Prioritätsstreitigkeiten, obwohl beide Protagonisten fast hundert Jahre alt wurden.)
Es gab später zahlreiche weitere Beweise des Primzahlsatzes, die unterschiedliche Ansätze der analytischen Zahlentheorie verwendeten. Einen elementaren Beweis ohne Verwendung der Riemannschen Zetafunktion fand erst Atle Selberg 1948.
Bild: https://jewishcurrents.org/december-8-the-prime-number-theorist/
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