Diese im 19. Jahrhudert gefundenen nichteuklidischen Geometrien widersprachen nun freilich der von Immanuel Kant postulierten a-priori-Existenz des Raumes. Physikalisch orientierte Mathematiker wie Henri Poincaré vertraten dazu einen konventionalistischen Standpunkt. Die Existenz von Dreiecken aus Lichtstrahlen, deren Innenwinkelsumme kleiner als 180 Grad ist, ließe sich erklären durch eine nichteuklidische Geometrie des Raumes, aber auch dadurch dass Licht nicht auf Geodäten reist. Im zweiten Fall könnte der Raum immer noch flach sein. Poincaré schrieb später in seinem populärwissenschaftlichen Werk „Wissenschaft und Hypothese“, es gäbe keine Möglichkeit, zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Der Raum würde nur durch unsere Wahrnehmungen geschaffen.

Hilberts Schrift wurde schon damals als paradigmatisch für den modernen axiomatischen Stil der Mathematik angesehen. Die axiomatische Methode zur Grundlegung der Geometrie war bereits bei Moritz Pasch, einem Gießener Professor, und auch in anderen Arbeiten umrissen worden, Peano hatte sogar Paschs Arbeit in symbolische Logik übersetzt. Hilbert selbst ging es aber auch darum, spezifische Fragen zur inneren Architektur der Geometrie zu klären.

Insbesondere konnte er erklären, warum die Sätze von Pappos und Desargues sich nicht innerhalb der projektiven Geometrie beweisen lassen. So wie man einerseits über jedem Schiefkörper K und auch jedem „Zahlensystem“ (so nannte er Mengen mit Addition und Multiplikation, in denen jeweils Inverse und neutrale Elemente existieren und 0 ≠ 1 ist, aber Assoziativität und Kommutativität der Multiplikation nicht notwendig gelten müssen) eine projektive Ebene P2K definieren kann, so kann man umgekehrt auch jeder axiomatisch definierten projektiven Ebene ein Koordinatensystem in einem solchen „Zahlensystem“ zuordnen. Es stellt sich heraus, dass die geometrischen Eigenschaften einer projektiven Ebene von den algebraischen Eigenschaften dieses Zahlensystems abhängen. Hilbert bewies, dass in einer projektiven Ebene der Satz von Desargues genau dann gilt, wenn dieses „Zahlensystem“ assoziativ, also ein Schiefkörper ist, und dass der Satz von Pappos genau dann gilt, wenn der Schiefkörper kommutativ, also ein Körper ist.

Beide Sätze gelten also nicht für alle projektiven Ebenen, man kann sie insbesondere nicht aus der abstrakten Axiomatik der projektiven Ebene herleiten. (Bemerkenswerterweise gelten aber beide Sätze in jedem 3-dimensionalen projektiven Raum und sie haben dort auch einen projektiven Beweis.)

Wedderburn und Veblen zeigten später, dass in endlichen projektiven Geometrien der Satz von Pappos (und allgemeiner der Satz von Pascal) aus dem Satz von Desargues folgt (Satz von Wedderburn) und konstruierten projektive Geometrien, in denen beide Sätze nicht gelten. Der Beweis des Satzes über endliche projektiven Geometrien folgt aus dem von Wedderburn und Dickson bewiesenen algebraischen Satz, dass es keine nichtkommutativen endlichen Schiefkörper gibt, und es gibt für diesen Satz bis heute keinen geometrischen Beweis.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:David_Hilbert,_c._1900.png

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Kommentare (2)

  1. #1 Quanteder
    8. November 2019

    @Thilo

    Diese im 19. Jahrhudert gefundenen nichteuklidischen Geometrien widersprachen nun freilich der von Immanuel Kant postulierten a-priori-Existenz des Raumes. Physikalisch orientierte Mathematiker wie Henri Poincaré vertraten dazu einen konventionalistischen Standpunkt. Die Existenz von Dreiecken aus Lichtstrahlen, deren Innenwinkelsumme kleiner als 180 Grad ist, ließe sich erklären durch eine nichteuklidische Geometrie des Raumes, aber auch dadurch dass Licht nicht auf Geodäten reist. Im zweiten Fall könnte der Raum immer noch flach sein. Poincaré schrieb später in seinem populärwissenschaftlichen Werk „Wissenschaft und Hypothese“, es gäbe keine Möglichkeit, zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Der Raum würde nur durch unsere Wahrnehmungen geschaffen.

    Daraus schlussfolgere ich, das Mathematiker/Geisteswissenschaftler spirituell tätig sind. Nur das sie nicht glauben müssen, wie es Theologen tun, sondern Mathematiker nehmen die Ordnung des Raumes (Nichtrealität) wahr.

    Kann eine solche „mathematische“ Spiritualität konservatives Denken verändern/revolutionieren? Ein revolutionärer Gedanke zum revolutionären Ehrentag 🙂 (… ach nee, du bist ja in der Zeit schon ein Stück weiter! … wie die Russen: die feiern die Oktoberrevolution im November 🙂

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