„Eine Kurve ist eine Länge ohne Breite“ heißt es bei Euklid, was wohl ausdrücken sollte, dass Kurven 1-dimensional sind. Felix Klein meinte einmal, jeder wisse, was eine Kurve sei – bis er genug Mathematik studiert habe um von den zahllosen Ausnahmen verwirrt zu sein.
Kurven definiert man heute als Bilder stetiger Abbildungen eines (endlichen oder unendlichen) Intervalls. Nicht alle solcher Kurven entsprechen der ursprünglichen Vorstellung von 1-Dimensionalität. Es gibt die von Peano und Hilbert konstruierten ebenen– bzw. raumfüllenden Kurven, die man also als 2- bzw. 3-dimensionale Objekte ansehen sollte. Es gibt die Seen des Wada, ein irritierendes Beispiel dreier disjunkter, offener und zusammenhängender Teilmengen der Ebene, die alle dieselbe Randkurve haben und die also zeigen, dass nicht jede Kurve in der Ebene diese in nur zwei Komponenten zerlegt. Oder es gibt von Osgood konstruierte Kurven von positivem Flächeninhalt:
Alle diese Kurven sind stetige Bilder eines unendlichen Intervalls. Vermeiden kann man solche Pathologien mit dem auf Camille Jordan zurückgehenden Kurvenbegriff: eine Jordankurve ist das Bild einer stetigen und injektiven Abbildung S1—->X des Kreises in einen topologischen Raum. Für diese Klasse von Kurven hatte Jordan den Kurvensatz bewiesen: jede Jordankurve in der Ebene R2 zerlegt die Ebene in zwei Zusammenhangskomponenten. Die Vollständigkeit seines Beweises wurde lange angezweifelt, da er den Satz für polygonale Kurven als selbstverständlich ansah und nur die Verallgemeinerung von polygonalen auf beliebige Jordankurven ausführte. Viele Mathematiker gaben andere Beweise des Kurvensatzes, motiviert durch seine grundlegende Bedeutung in niedrigdimensionaler Topologie und komplexer Analysis. Beispielsweise war der Kurvensatz das wesentliche Ingredient in Bendixssons Beweis des von Poincaré (in einem Spezialfall) ohne Beweis behaupteten Satzes von Poincaré-Bendixsson: eine Differentialgleichung in der Ebene hat nur endlich viele geschlossene Integralkurven und alle anderen verbinden kritische Punkte oder wickeln sich um Asymptoten oder beides. Mit anderen Worten: eine beschränkte Bahn, die keine Fixpunkte verbindet (und kein Fixpunkt ist), muß gegen eine periodische Bahn konvergieren (oder eine periodische Bahn sein). Der Kurvensatz wird im Beweis benötigt, um die Monotonie von Poincarés Rückkehrabbildung zu zeigen.
Luitzen Brouwer hatte sich in seiner Dissertation noch mit dem Zusammenhang oder eher der Unterscheidung von Mathematik und Logik befaßt, begann aber nach dem Internationalen Mathematikerkongreß in Rom seine Beschäftigung mit der Topologie. In einer Arbeit Zur Analysis Situs formulierte er die grundlegenden Definitionen und Sätze der Topologie in einer mengentheoretischen Sprache. Zum Beispiel gab er dem von zahlreichen Vorgängern verwendeten Begriff stetiger Deformationen eine präzise Bedeutung: zwei Abbildungen f,g:X—>Y heißen homotop, wenn es eine stetige Abbildung H:Xx[0,1]—>Y gibt mit H(x,0)=f(x), H(x,1)=g(x) für alle x.
Bezugnehmend auf das Erlanger Programm formulierte er, dass die Analysis Situs die Wissenschaft derjenigen Begriffe sei, die invariant unter Homöomorphismen (in damaliger Sprache stetigen und univalenten Abbildungen) sind. Moritz Schoenflies hatte am Beginn des Jahrhunderts die Grundlagen der Mengenlehre systematisiert und mit der Entwicklung einer mengentheoretischen Topologie begonnen. Die mengentheoretische Topologie hatte aber noch nicht ihre später durch Hausdorff ausgearbeitete axiomatische Grundlegung. Brouwer fand Gegenbeispiele zu manchen intuitiv formulierten Theoremen.
Schoenflies war sehr aktiv in der Weiterentwicklung von Cantors Mengenlehre, aber seine Ansätze zur mengentheoretischen Topologie setzten sich letztlich nicht durch. In einem Brief an Hilbert berichtete Brouwer über Unzulänglichkeiten in topologischen Arbeiten, etwa denen von Schoenflies, der kurz zuvor eine Verbesserung des Kurvensatzes bewiesen hatte: die beiden Zusammenhangskomponenten einer geschlossenen Kurve ohne Selbstschnitte sind topologisch dieselben wie beim Einheitskreis. Brouwers widerlegte manche von Schoenflies’ Argumenten und zeigte so, dass man andere Beweise benötigte.
Mit seinem Homotopiebegriff konnte Brouwer den simplizialen Approximationssatz formulieren und beweisen: eine stetige Abbildung zwischen Simplizialkomplexen ist (nach einer hinreichend guten Verfeinerung des Bildkomplexes) homotop zu einer simplizialen Abbildung. Insbesondere bekommt man damit zu jeder stetigen Abbildung einen Homomorphismus der Homologiegruppen. Das würde man später als Funktorialität bezeichnen, zur damaligen Zeit betrachtete man allerdings nur Bettizahlen und Torsionskoeffizienten als numerische Invarianten und noch nicht die Homologiegruppen als algebraische Invariante. Jedenfalls erhält man aus dem Approximationssatz, dass zwei als topologische Räume homöomorphe Simplizialkomplexe dieselben Betti-Zahlen und Torsionskoeffizienten haben – diese Folgerung allerdings findet sich nicht in Brouwers Arbeit, sie wird erst einige Jahre später von James Alexander gefunden. Man benötigt also nicht mehr die “Hauptvermutung“, um die Unabhängigkeit der Homologiegruppen von der Triangulierung nachzuweisen.
Cantors eineindeutige Abbildung einer Quadratseite auf ein Quadrat und erst recht die raumfüllenden Kurven von Peano und Hilbert hatten klar gemacht, dass Dimension ein schwieriger Begriff ist. Trotzdem war man weiter davon ausgegangen, dass es keinen Homöomorphismus einer Gerade auf die Ebene geben könne und allgemeiner keinen Homöomorphismus zwischen Mannigfaltigkeiten unterschiedlicher Dimension. Ein Beweis gelang aber erst Brouwer. In der 1911 in den Mathematischen Annalen veröffentlichten Arbeit Beweis der Invarianz der Dimensionenzahl gab er ein einfaches Argument, welches den von ihm definierten Abbildungsgrad und implizit die topologische Invarianz der Bettizahlen benutzte. Später formulierte James Alexander den Beweis einfacher als eine direkte Anwendung der Homologiegruppen: für eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit M und einen beliebigen Punkt x gilt . Daraus folgt unmittelbar, dass für n ≠ m eine n-dimensionale nicht zu einer m-dimensionalen Mannigfaltigkeit homöomorph sein kann.
In zwei weiteren ebenfalls 1911 in den Mathematischen Annalen veröffentlichten Arbeiten verwendete Brouwer den Abbildungsgrad und die simpliziale Approximation, um die höher-dimensionale Version des Jordanschen Kurvensatzes und den Fixpunktsatz für Abbildungen f:Dn—->Dn zu beweisen. Auch diese beiden Beweise formulierte man später noch einfacher als unmittelbare Anwendungen der Homologiegruppen.
Die höher-dimensionale Version des Jordanschen Kurvensatzes besagt, dass eine in die Sn eingebettete Sn-1 diese in zwei Zusammenhangskomponenten zerlegt. Weil für Mannigfaltigkeiten Zusammenhangskomponenten und Wegzusammenhangskomponenten dasselbe sind, ist sie äquivalent zu . Bei Verwendung reduzierter Homologie ist das ein Spezialfall der allgemeinen Formel
, die man durch Induktion nach k mit Hilfe der Mayer-Vietoris-Sequenz - die Brouwer natürlich noch nicht kannte - beweisen kann.
Einen ebenfalls sehr einfachen Beweis hat man heute für den Brouwerschen Fixpunktsatz. Wenn eine Abbildung f:Dn—>Dn keinen Fixpunkt hat, dann kann man mit ihrer Hilfe eine Retraktion r:Dn—>Sn-1 konstruieren, für die also die Verknüpfung mit der Einbettung i:Sn-1—>Dn die Identität auf Sn-1 gibt. Auf dem Level der n-1-ten Homologiegruppen bekommt man Homomorphismen Z—>0—>Z, deren Verknüpfung die Identität ist, und das ist natürlich unmöglich. Diese einfacheren Beweise konnte Brouwer nicht finden, weil zu seiner Zeit nur mit den Betti-Zahlen und noch nicht mit den Homologiegruppen und deren Funktoreigenschaft gearbeitet wurde. Deshalb mußte er seine Beweise unter Verwendung des Abbildungsgrades führen.
Nach Erscheinen von Brouwers Beweis der Dimensionsinvarianz behauptete Lebesgue, dass dieser bereits aus der (offensichtlichen) topologischen Invarianz der von ihm für beliebige Räume definierten Überdeckungsdimension folge. Tatsächlich war aber Lebesgues Argument für das Übereinstimmen seines Dimensionsbegriffs mit der Dimension von Mannigfaltigkeiten unvollständig und Brouwer bewies die Gleichheit dieser beiden Dimensionsbegriffe erst zwei Jahre später. Brouwers ursprünglicher Beweis der Dimensionsinvarianz war aber ohnehin der einfachere.
Bild: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Luitzen_Egbertus_Jan_Brouwer.jpeg
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