Die “starke bäuerlich-handwerklich-kaufmännische Ausrichtung” des bisherigen Rechenunterrichts genügt nach jüngsten pädagogischen Forschungen nicht mehr den modernen Anforderungen. Denn das Rechnen mit Zahlen, das vor allem schematisches Denken erfordert, wird im Berufsleben mehr und mehr von Maschinen erledigt.
Die neue Mathematik, die auf der sogenannten Mengenlehre basiert, soll dagegen logisches und analytisches Denken fördern. Die Erstkläßler beispielsweise müssen eine Menge von eckigen und runden, roten und blauen, großen und kleinen Figuren nach Form, Farbe und Größe sortieren. Durch diese Methode, die von Schuljahr zu Schuljahr anspruchsvoller wird, soll bei den Schülern — so die nordrhein-westfälischen Richtlinien — die “Fähigkeit des Ordnens … des Erfassens von Strukturen entwickelt werden”.
So der SPIEGEL am 16. März 1970, also vor genau 50 Jahren, zu einem neuen Lehrplan, dessen Erprobung für zwei oder vier Jahre damals gerade begann.
Vier Jahre später, am 25. März 1974, schrieb er unter der Überschrift Mengenlehre: „3 + 5 = 5 + 3“ über Proteste und Prozesse gegen die Mengenlehre an Grundschulen.
Geschweifte Klammern und Ellipsen, in die immer neue und immer andere Mengen geschrieben oder gezeichnet werden, füllen viele Hefte. Väter und Mütter, die pflichtbewußt den Bestseller “Eltern lernen die neue Mathematik” oder ein anderes der fünf Dutzend Elternbücher gelesen oder einen Kurs an der Volkshochschule besucht haben, sind ihren Kindern wenigstens in der Erkenntnis voraus, daß es Mengen in Unmengen gibt: unter anderem Grund-, Teil-, Vereinigungs-, Ergänzungs-, Schnitt-, Unterschieds-, Null-, Verbindungs-, Rest-, Produkt-Lösungsmengen.
Aber selbst allabendlich strebend bemühten Eltern fällt es oft schwer, mit ihren Sprößlingen mitzuhalten oder ihnen zu helfen, wenn sich die Begriffe verwirren.
Von Mächtigkeit reden Achtjährige und meinen nicht Könige oder Kanzler, sondern Mengen von Haselnüssen und Rosinen. Und wenn sie sagen, irgend etwas sei irgend etwas anderem “eineindeutig” zuzuordnen, dann stottern sie nicht, sondern sind stolz darauf, daß sie dem Vater auch dann überlegen sind, wenn er Abitur und Doktortitel besitzt. Laut Mengenlehre-Gegner Hans Stahl (Stuttgart) “sehen die Kinder früh, zu früh, ihre Eltern hilflos und unwissend. Damit schwindet die Achtung, die Kinder können nicht mehr ihre Eltern fragen, deren Vorbild verblaßt”.
Klare Kampflinien gab es immerhin zwischen den akademischen Disziplinen:
Während Ärzte, Ärztekammern und -verbände vorerst nur vereinzelt gegen die Mengenlehre kämpfen, hat sich eine andere akademische Sparte fast vollzählig mit den empörten Eltern verbündet. Es sind die Universitätsprofessoren für Mathematik, die von der Art, wie Mengenlehre derzeit an deutschen Grundschulen betrieben wird, nicht viel mehr als nichts halten.
Mengenlehre sei zwar, argumentiert die “Deutsche Vereinigung für mathematische Logik”, eine “wichtige mathematische Disziplin”, aber für die Schule kaum geeignet. Dort könne es allenfalls eine “Gebrauchsmengenlehre” geben, die “eher eine Sprache als ein eigener mathematischer Stoff” sei und deshalb im Zusammenhang mit anderen Stoffen “allmählich und zwanglos eingeführt werden” solle.
Die Gegenpartei bilden, nahezu ebenso geschlossen, die Professoren für Didaktik der Mathematik, die an den Pädagogischen Hochschulen tätig sind. Sie sind auch als Schulbuch-Autoren bemüht, der Grundschule das neue Gebiet zu eröffnen, um Anschluß an die weiterführenden Schulen zu halten.
Es lohnt sich, den langen Artikel in Gänze zu lesen.
Meine Frage an die Leser: wer ging damals zur Schule und kann sich noch an die „neue Mathematik“ erinnern? Im Rückblick 50 Jahre später: hat der andersartige Mathematikunterricht eher genutzt oder geschadet? Ich bin gespannt.
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