Unsere Mathe-Verachtung ist tödlich titelt die taz und nutzt die Corona-Krise für einen leidenschaftlichen Befreiungsschlag im Kampf der Naturwissenschaftler gegen die Bildungsbürger.
Die Christian Drostens der Republik sind gerade gefragt, ihre wissenschaftlichen Ratschläge begehrt. Die Öffentlichkeit hängt an ihren Lippen, weil sie erklären, wie das so funktioniert mit den Viren und wie schnell sich Covid-19 verbreitet.
Die derzeitige Bewunderung für die Wissenschaftler ist die Kehrseite von gesellschaftlicher Gleichgültigkeit in normalen Zeiten. Wenn nicht gerade eine Pandemie ausbricht, sind Virologen, Naturwissenschaftler generell sowie auch Mathematiker die Nerds, denen man nicht richtig zuhört. Wäre Deutschland ein Haus, würden die Christian Drostens im Keller leben. Abgeschieden forschen sie vor sich hin, während die Bewohner der oberen Etagen durchaus froh sind, dass sie da unten leben – man könnte sie ja mal brauchen.
„Man kennt Goethe, aber keine Exponentialkurven“ wird dann weiter geklagt und die aktuelle Krise darauf zurückgeführt, dass die „an den föderalen Hebeln“ Sitzenden sich kein exponentielles Wachstum vorstellen könnten. Schuld sei das Humboldtsche Bildungsideal:
Der Goldstandard in diesen Kreisen sind alte Sprachen. Wer hier glänzt, hätte seine Intelligenz und sein logisches Denken ebenso gut in Naturwissenschaften einsetzen können – aber diese Fächer sind zu trivial, weil nützlich. Als Auffangbecken für die nicht so begabten Bildungsbürgerkinder steht heute das Fach Deutsch bereit. Hier werden diese Fähigkeiten belohnt: schriftliches und mündliches Schwadronieren, Sich-gut-präsentieren-Können, Hauptsache, eine Meinung haben, den Gegenüber zutexten können.
Und schließlich wird der traditionelle Gegensatz zwischen altsprachlichem Gymnasium und Realgymnasium zur Erklärung bemüht.
Mathematik und Naturwissenschaften sind bis heute der Aufstiegskanal für solche, die aus weniger privilegierten Familien kommen. Das hat praktische Gründe: Mathe ist verdammt billig. Man braucht neben Talent einen Taschenrechner oder ein Handy und einen Internetanschluss, früher ein paar Fachbücher. […] Deshalb sind Mathe und Naturwissenschaften auch attraktiv für Migrantenkinder. Diese Fächer beruhen auf universell geltenden Gesetzen und Formeln, die für sie einfacher zu durchdringen sind als die Blackbox des deutschen Bildungsdünkels.
Es wäre natürlich zu wünschen, dass es so wäre, tatsächlich scheinen aber Migranten und Kinder aus bildungsfernen Familien in Mathematik und Naturwissenschaften eher noch stärker unterrepräsentiert zu sein als in anderen Studienfächern. Die Mehrzahl der deutschen Naturwissenschaftler dürfte ihre Ausbildung durchaus in an Wilhelm von Humboldt orientierten Schulen erhalten haben. Und wie die Geschichte (nicht nur die deutsche) zeigt, sind humanistische Gymnasien einerseits durchaus nicht hinderlich für eine Arbeit als Naturwissenschaftler, und andererseits gewiss auch keine Garantie dafür, dass die Absolventen später einmal naturwissenschaftliche Forschung auch aus übergeordneter Perspektive zu beurteilen willens oder in der Lage sind.
Überhaupt werden in diesem Artikel viele Dinge zusammengerührt, die wenig miteinander zu tun haben. Dass im Fach Deutsch häufig schwadroniert wird, hat sicher nicht mit mangelnder naturwissenschaftlicher Bildung zu tun, eher vielleicht mit fehlender Bildung im geisteswissenschaftlichen Bereich, die sich freilich bei Diskussionen zu naturwissenschaftlichen Themen genauso bemerkbar macht wie im Deutschunterricht. Wer die Debatten über Willensfreiheit und ihre juristischen Konsequenzen verfolgt hat, wird wissen, was ich meine.
In Sachsen hatte der 1994-2004 amtierende Bildungsminister Matthias Rößler ein klares Primat der Naturwissenschaften gegenüber Geisteswissenschaften durchgesetzt, freilich nicht auf Kosten der alten Sprachen, sondern eher auf Kosten neuerer Literatur und Geschichte. Die Folgen dieser Bildungspolitik (und der Jahrzehnte vorher und nachher) kann man jeden Montagabend auf dem Dresdner Neumarkt besichtigen. (Aktuell gerade nicht, dank Corona.) Und auch bei den Wahlergebnissen, wo die AfD bei den 30-45-jährigen ihre besten Ergebnisse erzielt.
Was Moon von Trump unterscheidet oder Merkel von Johnson ist nicht der Besuch eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums, sondern die Bereitschaft, auf Fachleute zu hören statt Launen (den eigenen oder denen der Wähler) nachzugeben.
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