In seinem 1879 erschienenen Buch “Kalkül der abzählenden Geometrie” hatte der Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Schubert Methoden für Abzählprobleme der algebraischen Geometrie entwickelt. Seine Beweise beruhten auf dem “Prinzip der Erhaltung der Anzahl”: die Anzahl der Lösungen eines geometrischen Problems bleibe bei Deformationen erhalten; man könne also so deformieren, dass man ein einfach zu lösendes Problem bekommt.

Die Frage, wieviele Geraden (im projektiven Raum) vier gegebene Geraden l1,l2,l3,l4 schneiden, würde Schubert so beantworten: nach Deformation der Geraden könne man annehmen, dass l1 und l2 sich schneiden und ebenso l3 und l4. Dann gibt es genau zwei Lösungen, nämlich die Verbindungsgerade der beiden Schnittpunkte und die Schnittgerade der Ebenen durch l1,l2 mit der Ebene durch l3,l4. Diese Anzahl “Zwei” soll dann auch die allgemeine Lösung sein außer in speziellen Fällen, wo es unendlich viele Lösungen gibt.
Tatsächlich gibt es auch Fälle, wo die ersten drei Geraden windschief sind und wie im Bild eine aus Geraden gebildete “Regelfläche” bestimmen. Die Regelfläche schneidet die vierte Gerade in zwei Punkten, es gibt also auch in diesen Fällen – wie vom „Prinzip der Erhaltung der Anzahl“ postuliert – zwei Lösungen m1,m2. Es kann aber auch ausgeartete Fälle geben, wo die beiden Lösungen zusammenfallen – in Schuberts Buch wurden keine Vielfachheiten definiert.

Der Schubert-Kalkül beruht darauf, dass man die Lösungen geometrischer Probleme oft als Zykel in der Graßmann-Mannigfaltigkeit G(d,n), dem Raum der d-dimensionalen Unterräume im n-dimensionalen Raum, auffassen kann. Mehrere solcher Bedingungen zu stellen heißt dann die Schnittmengen der entsprechenden Zykel zu bestimmen.
Beispielsweise bilden diejenigen Geraden, die eine gegebene Gerade schneiden, einen Zykel in G(1,3). (Um in projektiven Koordinaten zu rechnen, kann man G(1,3) mittels Plücker-Koordinaten in den P5 einbetten. Das funktioniert ähnlich auch für höhere G(d,n).) Zu den vier Geraden l1,l2,l3,l4 bilden die jeweils eine von ihnen schneidenden Geraden also jeweils einen Zykel in G(1,3). Die alle vier schneidenden Geraden bilden dann den Durchschnitt dieser vier Zykel. Man will also die Anzahl der gemeinsamen Schnittpunkte dieser vier Zykel im G(1,3) bestimmen.

Schuberts Kalkül soll in heutiger Sprache solche Schnittzahlen von Zykeln in G(d,n) berechnen. Seinerzeit fanden die Algebraiker seine auf dem “Prinzip der Erhaltung der Anzahl” beruhenden Berechnungen kaum nachvollziehbar. Beispielsweise wurde erst mehr als dreißig Jahre nach Erscheinen von Schuberts Buch die dort geäußerte Behauptung bewiesen, dass es genau 92 Kegelschnitte gibt, die acht gegebene windschiefe Geraden schneiden.
Hilbert machte die mathematische Begründung des Schubert-Kalküls zu einem seiner 23 Jahrhundertprobleme. Die Geometer der italienischen Schule gaben später einige Gegenbeispiele zu Berechnungen aus Schuberts Buch. Severi, der innerhalb der italienischen Schule den topologischen Zugang zur algebraischen Geometrie propagierte, schrieb 1912 eine Arbeit „Il Principio della Conservazione del Numero“, wo er Vielfachheiten eindeutig definieren konnte. Das war ein erster Schritt zu einer formalen Grundlegung der algebraischen Geometrie und erlaubte in späterem Verständnis einen Abzählkalkül im Homologiering einer singularitäten-freien algebraischen Varietät.

Beim Schubert-Kalkül geht es um die Berechnung von Schnittzahlen, ein wichtiges technisches Problem war also die Entwicklung einer Schnitttheorie. Dieses Problem wurde von Solomon Lefschetz in Angriff genommen, einem in Paris aufgewachsenen und in die USA ausgewanderten Sohn aus Moskau stammender Eltern türkischer Staatsangehörigkeit, der als ausgebildeter Elektroingenieur in algebraischer Geometrie promoviert hatte und als Professor an der Universität Kansas die Anwendung der topologischen Methoden Poincarés in der algebraischen Geometrie entwickelte. „Es war mein Los, die Harpune der algebraischen Topologie in den Körper des Wals der algebraischen Geometrie zu pflanzen.„ schrieb er später.

Um die Schnittzahl zweier Untervarietäten X und Y zu definieren, betrachtete er lineare Systeme (also linear von Parametern abhängende Familien definierender Polynome, die zum Nullwert des Parameters die Untervarietät X definieren) und bewies, dass für generische Werte des Parameters t die Varietät Xt transversal zu Y und der Durchschnitt wieder eine Varietät der passenden Kodimension ist. Allerdings gab es dabei Probleme in Umgebungen von Singularitäten, weshalb er für seinen Beweis annehmen mußte, dass X und Y singularitäten-freie Varietäten sind. (Heute würde man das in der Kategorie der differenzierbaren Mannigfaltigkeiten beweisen und den Thomschen Transversalitätssatz verwenden, demzufolge X mittels einer beliebig kleinen Homotopie transversal zu Y gemacht werden kann.) Mit dieser generischen Transversalität konnte er dann insbesondere die Schnittzahl für Untervarietäten komplementärer Dimension definieren. (Heinz Hopf formulierte diese Definition später als ein Produkt auf Homologiegruppen. Lefschetz hatte den Begriff der Homologiegruppen noch nicht zur Verfügung, seine Definition gab deshalb zunächst nur eine Familie homologer Zykel.)

Die wichtigste Anwendung seiner Schnitttheorie wurde die Fixpunktformel. Dafür interpretierte er die Fixpunkte einer Abbildung f:X—>X als Schnittpunkte ihres Graphen mit der Diagonale (dem Graphen der Identitätsabbildung) im Produktraum XxX. Der Beitrag eines (isolierten) Fixpunktes x zur Schnittzahl (des Graphen und der Diagonale) ist ein gewisser “lokaler Fixpunktindex” L_x(f)=det(D_xf-Id).

In der Summe über alle Fixpunkte \Sigma_{f(x)=x}L_x(f) erhielt Lefschetz die Schnittzahl des Graphen mit der Diagonale, eine topologische, deformationsinvariante Größe. Diese topologische Größe kann man in heutiger Sprache ausdrücken als L(f)=\Sigma_{i=0}^{dim(X)}(-1)^i Spur(f_*\colon H_i(X)\to H_i(X)), die Wechselsumme über die Spuren der induzierten Abbildungen auf den Homologiegruppen.
Wenn L(f)≠0, dann muss es mindestens einen Fixpunkt geben, da man ja auf der anderen Seite über die lokalen Fixpunktindizes der einzelnen Fixpunkte summiert.
Für die Identitätsabbildung f=Id und zu ihr homotope Abbildungen erhält man die Wechselsumme über die Dimensionen der Homologiegruppen, also die Euler-Charakteristik χ(X). Wenn χ(X)≠0, dann muß also jede zur Identität homotope Abbildung Fixpunkte haben.
Eine unmittelbare Folgerung ist beispielsweise, dass auf gerade-dimensionalen Sphären S2n nur Z/2Z fixpunktfrei wirken kann, da χ(S2n)≠0 und es nur zwei Homotopieklassen von Homöomorphismen der Sphäre gibt. Für die 2-Sphäre S2 hatten das zuvor Brouwer und Kérékjártó bewiesen.

Die Lefschetzsche Fixpunktformel wurde von den Mathematikern als der größte Erfolg der Analysis Situs angesehen. Und die homologische Schnittzahl stellte die Theorie der Korrespondenzen, wie sie von den algebraischen Geometern und besonders der italienischen Schule lange verwendet worden war, auf eine topologische Grundlage. (Streng genommen benötigte man beim damaligen simplizialen Zugang zur Homologietheorie dafür die Triangulierbarkeit algebraischer Varietäten, die von Poincaré skizziert worden war, aber erst später von van der Waerden formal bewiesen wurde.)

In seiner Arbeit kündigte Lefschetz an, dass er seinen Beweis auf Mannigfaltigkeiten mit Rand ausdehnen könne und damit einen neuen Beweis des Brouwerschen Fixpunktsatzes für stetige Abbildungen f:Bn—->Bn erhalten könne. Für die Vollkugel Bn sind mit Ausnahme von H0 alle Homologiegruppen Hk(Bn;R)=0; auf H0(Bn;R)=R wirkt f als Multiplikation mit 1 oder -1, womit \sum_i (-1)^i Spur(f_*\colon H_i(B^n;{\bf R})\to H_i(B^n;{\bf R}))=\pm 1\not=0. Für die dafür benötigte Verallgemeinerung seines Beweises auf Mannigfaltigkeiten mit Rand benötigte er dann aber noch einige Jahre.

Mit der Topologie algebraischer Flächen hatte sich vor der italienischen Schule auch schon Picard befaßt. Dessen Methode beruhte auf der Betrachtung von (heute als Lefschetz-Faserungen bezeichneten) Abbildungen der komplexen Fläche auf die projektive Gerade P1C (die topologisch die 2-Sphäre ist) und der Untersuchung der Frage, wie sich in Abhängigkeit vom Basispunkt die Topologie der Fasern ändert. Spezielle Bedeutung kommt dabei natürlich den singulären Fasern zu. In einer singulären Faser gibt es einen "Verschwindungszykel", eine (im Vergleich zu den anderen Fasern) zu einem Punkt zusammengezogene Kurve. Die Monodromie einer geschlossenen Kurve um das Bild einer singulären Faser ist nicht trivial. Picard hatte eine explizite Formel für die Monodromie angegeben, in heutiger Sprache handelt es sich um einen Dehn-Twist am Verschwindungszykel. Lefschetz verallgemeinerte Picards Formel für Lefschetz-Faserungen höher-dimensionaler Varietäten über P1C.

Lefschetz betrachtete auch noch allgemeinere - heute als Lefschetz-Büschel bezeichnete - Abbildungen nach P1C, die einer Parametrisierung von - nicht disjunkten, sondern sich in einer “Achse” der Kodimension 2 schneidenden - Hyperebenenschnitten der Varietät V durch eine Teilmenge von CP1 entsprechen. Jede projektive Varietät ist ein Lefschetz-Büschel und damit konnte er einen für die topologische Untersuchung algebraischer Varietäten extrem nützlichen Satz beweisen, den Satz über Hyperebenenschnitte: für eine Hyperebene H und eine Varietät V in CPn induziert die Abbildung V ∩ H ---> V einen Isomorpismus der Homologiegruppen in niedrigen Graden, nämlich bis dimCV-2 (und eine surjektive Abbildung in Grad dimCV-1).

Dieser Satz macht zunächst nur eine Aussage über Hyperebenenschnitte, man kann ihn aber zur topologischen Untersuchung beliebiger Varietäten verwenden. Zu einer (durch ein Polynom P gegebenen) Varietät X im CPk gibt es eine (aus P und seinen Ableitungen berechenbare) Einbettung ι:CPk-->CPN, so dass das Bild ι(X) ein Hyperebenenschnitt in V:=ι(CPk) ist. Da die Topologie von V≅CPk bekannt ist, kann man mit dem Satz über Hyperebenenschnitte die Topologie von V∩H=ι(X)≅X bestimen. Auf diese Weise konnte Lefschetz beispielsweise beweisen, dass singularitäten-freie algebraische Flächen X⊂CP3 einfach zusammenhängend sind, und auch viele tiefere Resultate.
Dass dieser Satz über Hyperebenenschnitte später oft als das schwache Lefschetz-Theorem bezeichnet wurde, lag an einem anderen Satz, der den Namen „Schwerer Lefschetz-Satz“ erhielt (und vollständig erst später von Hodge bewiesen wurde). Dieser war kein rein topologisches Resultat, sondern gab für projektive Varietäten eine "transzendente" Erklärung der ursprünglich topologisch bewiesenen Poincaré-Dualität: für eine komplex n-dimensionale projektive Varietät gibt es einen unter Verwendung der komplexen Geometrie definierten Isomorphismus L\colon H^{*}(M)\to H^{*+2}(M), so dass für alle k der Isomorphismus L^k\colon H^{n-k}(M)\to H^{n+k}(M) die Poincaré-Dualität realisiert.

Die Anwendung topologischer Argumente auf ein außerhalb der Topologie liegendes Gebiet, die algebraische Geometrie, und vor allem die zahlreichen Anwendungen des Fixpunktsatzes, überzeugten viele Mathematiker erst von der Nützlichkeit der (damals noch als Analysis Situs bezeichneten) Topologie. Lefschetz wurde 1924 nach Princeton berufen, Alexander, Lefschetz und Veblen machten Princeton in den folgenden Jahren zum Zentrum der Topologie.

Bild:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LefschetzSolomon_Moscow1935.tif

Kommentare (3)

  1. #1 Johannes
    23. April 2020

    L(f)=\Sigma_{i=0}^{dim(X)}Spur(f_*\colon H_i(X)\to H_i(X)), d

    kann es sein das hier eine (-1)^n fehlt? auf der nächsten seite ist es da.

  2. #2 Thilo
    23. April 2020

    Ja natürlich, jetzt ist es ergänzt. Im Satz danach war ja auch von der Wechselsumme die Rede.

  3. […] der Partitionsfunktion Der Satz von Thue-Siegel Das Lokal-Global-Prinzip Der Banachsche FixpunktsatzDie Lefschetzsche Fixpunktformel Der Fisher-Test Die Hauptsätze der Werteverteilungstheorie Der Satz von Peter-Weyl Das Artinsche […]