Noch in den 1920er Jahren bestand der Inhalt einer Algebra-Vorlesung aus „konkreter“ Mathematik: Determinanten, symmetrische Funktionen und Resultanten, der Trägheitsindex einer reellen quadratischen Form, die Lösung kubischer und biquadratischer Gleichungen, die Sturmsche Regel zur Anzahl reeller Nullstellen eines Polynoms, projektive Geometrie (Erzeugung der Kegelschnitte durch zwei Geradenbüschel), und abzählende Geometrie (z.B. die Anzahl von Kegelschnitten mit gewissen Bedingungen).
Das änderte sich durch den (indirekten) Einfluß von Emmy Noether, beginnend mit ihrer heute als Beginn der abstrakten Algebra angesehenen, 1921 in Mathematische Annalen erschienenen Arbeit „Idealtheorie in Ringbereichen“. In dieser Arbeit bewies sie für Ringe mit der „aufsteigende Ketten“-Bedingung (heute als Noethersche Ringe bezeichnet) die Eindeutigkeit der Zerlegbarkeit von Idealen in Primärideale.
Ideale und ihre Zerlegbarkeit in Primideale waren ursprünglich in der algebraischen Zahlentheorie von Interesse. Mittels „idealer Zahlen“ war die Eindeutigkeit der Primzerlegung in Kreisteilungskörpern erreicht worden. (Die fehlende Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung für echte Elemente eines Kreisteilungskörpers Q(e2πi/n) war der Grund für das Scheitern eines damals vieldiskutierten Beweises zur Fermat-Vermutung gewesen.) Die von Kummer eingeführten idealen Zahlen lassen sich als Kerne von Ringhomomorphismen des Ganzheitsrings eines algebraischen Zahlkörpers in endliche Körper interpretieren, auch wenn sie natürlich von damaligen Zahlentheoretikern nicht auf diese Weise betrachtet wurden.
Richard Dedekind, der letzte Student von Carl Friedrich Gauß, hatte dann eine Reihe von für seine Zeitgenossen sehr abstrakten Begriffen wie Ringen, Ordnungen, Moduln und Idealen eingeführt. Während im Ganzheitsring OK eines Zahlkörpers K die Primfaktorzerlegung nur dann eindeutig ist, wenn die Klassenzahl 1 ist, konnte Dedekind jedoch beweisen, dass für Ideale in OK die Zerlegung in Primideale eindeutig ist.
Ein ähnliches Problem stellt sich in der algebraischen Geometrie. Dort sind beispielsweise die Polynome x-1 und y2-x beide irreduzibel, aber die durch sie definierte Varietät besteht aus zwei unzusammenhängenden Punkten (1,1) und (1,-1). Die Zerlegung einer Varietät in ihre irreduziblen Komponenten bekommt man also nicht einfach durch Faktorisierung der definierenden Polynome. (Außerdem sind die eine Varietät definierenden Polynome nicht eindeutig bestimmt. Im Beispiel könnte man dieselbe Varietät auch durch die Polynome x2+y2-2 und x2-4x+y2+2 definieren. Weil die Beschreibung durch Polynome nicht eindeutig ist, hatten Dedekind und Weber in den 1880er Jahren Kurven nicht durch definierende Polynome, sondern als durch ihren Funktionenkörper bestimmt angesehen: jeder endlichen Erweiterung von C(x) entspricht der Funktionenkörper einer Kurve. Die Punkte der Kurve entsprechen den Bewertungen des Funktionenkörpers.)
Die natürliche Definition algebraischer Varietäten ist deshalb, im Polynomring das Ideal aller auf der Varietät verschwindenden Polynome zu betrachten. Im Beispiel ist dies das von x-1 und y2-x erzeugte Ideal. Die Frage nach der Zerlegung einer Varietät in irreduzible Varietäten übersetzt sich dann in die algebraische Frage nach der Zerlegbarkeit von Idealen. Diese hatte der damalige Schachweltmeister Emanuel Lasker 1906 gelöst: jedes Ideal im Polynomring C[x1,…,xn] hat eine Zerlegung in Primärideale. Noethers Arbeit von 1921 formulierte dann die „aufsteigende Ketten“-Bedingung, unter der dieser Satz auch in allgemeinen Ringen richtig ist. Laskers Satz ist ein Spezialfall, weil die aufsteigende Kettenbedingung sich von C auf den Polynomring überträgt.
Noether hatte zwar formal keine Mitarbeiter oder Studenten, die Mitglieder ihres Kreises wurden aber gemeinhin als Noether-Knaben bezeichnet. (Wobei auch einige Frauen darunter waren.) Sie publizierte nicht viel, sondern überließ die Publikation ihrer Ideen den jungen Leuten und regte sie auch ausdrücklich dazu an. Sie war sehr freigiebig mit ihren Gedanken und stellte keine Prioritätsansprüche. Vor allem Bartel van der Waerden trug mit seinem auf Vorlesungen Noethers und Artins beruhenden Lehrbuch „Moderne Algebra“ zur Verbreitung ihrer Ideen bei. Das Buch erschien 1930 und bedeutete eine Abkehr von konkreten Rechentechniken und eine Hinwendung zur Untersuchung abstrakter Strukturen. Es wurde für die nächsten Jahrzehnte das Standardwerk für Algebra-Vorlesungen.
Auch van der Waerdens Ansätze zur algebraischen Geometrie waren stark von Noether beeinflußt. So hatte sie ihm etwa nahegelegt, wie man die Dimension einer algebraischen k-Varietät definieren solle, nämlich über den Transzendenzgrad ihres Funktionenkörpers, also des Körpers der rationalen Funktionen als Körpererweiterung von k. (Ernst Steinitz hatte in seiner grundlegenden Arbeit zur Körpertheorie die Unabhängigkeit des Transzendenzgrades vom Erzeugendensystem bewiesen.) Van der Waerdens Arbeit “Zur Nullstellentheorie der Polynomideale” baute auf Stoff auf, den Noether ein halbes Jahr zuvor in ihrer Vorlesung behandelt hatte und begann mit dem Postulat
Die exakte Begründung der Theorie der algebraischen Mannigfaltigkeiten in n-dimensionalen Räumen kann nur mit den Hilfsmitteln der Idealtheorie geschehen, weil schon die Definition einer algebraischen Mannigfaltigkeit unmittelbar auf Polynomideale führt. Eine Mannigfaltigkeit heißt ja algebraisch, wenn sie durch algebraische Gleichungen in den n Koordinaten bestimmt wird, und die linken Seiten aller Gleichungen, die aus diesen Gleichungen folgen, bilden ein Polynomideal.
Die italienische Schule der algebraischen Geometrie hatte stets über komplexen Zahlen gearbeitet, sie nutzte mit großem Erfolg Stetigkeit und Topologie in ihren Argumenten, war aber nicht immer sorgfältig in der Behandlung ausgearteter Fälle. Über beliebigen Körpern k ließen sich ihre Stetigkeitsargumente ebensowenig anwenden wie sich ihre Begriffe eines generischen Punktes oder der Schnittvielfachheit verallgemeinern ließen. Van der Waerden entwickelte diese Begriffe neu, indem er in Körpererweiterungen K von k arbeitete.
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