Vor einigen Wochen hatte ich mal über die Mengenlehre geschrieben, die Anfang der 70er Jahre an deutschen Grundschulen eingeführt worden war. In den Kommentaren hatte es dann zahlreiche, fast durchgängig positive Wortmeldungen von damaligen Betroffenen gegeben, was ich recht überraschend fand.
Es ist natürlich möglich, dass die Leserschaft der scienceblogs keine repräsentative Stichprobe der Grundgesamtheit ist; die Antworten schienen auch überwiegend von Lesern mit einem Bezug zu Informatik und Programmiersprachen zu stammen. Es stellt sich also die Frage, wie der Durchschnittsbürger den Unterricht damals wahrgenommen und wie er von ihm profitiert hat.
Eigentlich wäre das ja mal ein Thema für erziehungswissenschaftliche Master- oder auch Doktorarbeiten: herauszufinden, wie damalige Schüler ihren Mathematikunterricht heute einschätzen und inwieweit – subjektiv in der Eigensicht oder auch möglichst objektiver in der Außensicht – die erlernten und eventuell nicht erlernten Fähigkeiten ihnen genutzt oder auch geschadet haben.
Vor zwei Jahren wurde an der Universität Hildesheim eine Dissertation “Die „Mengenlehre“ im Anfangsunterricht – historische Darstellung einer gescheiterten Unterrichtsreform in der Bundesrepublik Deutschland” (Link) verfaßt. Dort geht es zwar nicht um die Frage, wie sich der Unterricht langfristig auf die Schüler auswirkte, was wohl auch methodisch schwierig wäre, aber man findet eine Analyse der theoretischen und unterrichtskonzeptionellen Hintergründe, die sich (im Gegensatz zum realen Unterricht) anhand der Quellen, also erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Fachliteratur und vor allem damaliger Schulbücher und Lehrermaterialien rekonstruieren lassen.
Die Autorin Tanja Hamann hatte in einem älteren Text von 2011 schon erste Annahmen formuliert:
Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich das Scheitern der Neuen Mathematik in der Grundschule auf keine einzelne Ursache zurückführen lässt; eine Kombination verschiedener Faktoren war für die Entwicklung verant- wortlich. Nicht zu unterschätzen ist dabei sicher der gesellschaftliche Einfluss in Form der öffentlichen Meinung, dem die Bildungspolitik schließlich nachgab. Einer der Auslöser der starken Tendenz gegen die Mengenlehre mag dabei gewesen sein, dass die Änderungen zu umfassend waren. Neben der Einführung völlig neuer Inhalte, was in der Grundschule faktisch einer Ablösung des vertrauten Schulfaches „Rechnen“ durch das Schulfach „Mathematik“ gleichkam, standen neuartige Unterrichtsformen. Die Kinder spielten im Unterricht und lösten Aufgaben nicht mehr nur für sich. Die Schulbücher waren bunt und enthielten fremde Symbole statt Zahlen. Bei einigen Eltern müssen diese Umstände echte Ängste ausgelöst haben, ihr Kind würde Lebenswichtiges nicht lernen. Möglicherweise war die Gesellschaft vom Umfang der Neuerungen schlicht überfordert.
Nichtsdestotrotz muss festgestellt werden, dass nicht alles, was im Zuge der Reform neu war, aus dem Unterricht verschwunden ist. Für die Mengenlehre und weitere Inhalte mag das zutreffen, aber z. B. die Geometrie gehört erst seit den 1970ern zum festen Kanon der Grundschule. Das Nachdenken darüber, welche Methode am geeignetsten ist, hat sich etabliert, Lernspiele bei Schulanfängern und Gruppenarbeit werden so wenig in Frage gestellt wie offener Unterricht allgemein. Schulbücher sind weiterhin bunt und enthalten viele Bilder, Begriffe sollen nicht vorgegeben, sondern erarbeitet werden. Eine Rückkehr zum alten Fach „Rechnen“ stand nie ernsthaft zur Debatte. Die Bezeichnung des Faches als „Mathematik“ ist seitdem geblieben und mit ihr die selbstverständliche Integration mathematischer Propädeutik in den Grundschulunterricht. Offenbar hat die Neue Mathematik trotz ihres offiziellen Scheiterns wichtige Impulse in der Mathematikdidaktik gesetzt, die bis heute spürbar sind.
In der Arbeit selbst geht es dann vor allem um den Vergleich dreier verschiedener Lehrwerke. Zwar ist im Titel der Arbeit von einer “gescheiterten Unterrichtsreform” die Rede, die Autorin macht aber klar, dass sie nicht den Ansatz der Neuen Mathematik für verkehrt hält, sondern dass dieser an den äußeren Umständen und den erheblichen Widerständen gescheitert sei. Die Mengenlehre sei als gescheitert anzusehen, weil “die Nähe der Umsetzung von Reformkonzepten zu den Ideen und Zielen, die ihren ursprünglichen Ausgang markieren”, nicht gegeben sei, sie “vielmehr durch eine Fülle an Anpassungen und Verkürzungen, auf den verschiedenen Ebenen” gekennzeichnet gewesen wäre. Zur Geschichte der Reform liest man folgendes Fazit:
Ende 1973 und damit nach dem ersten abgeschlossenen Schuljahr, in dem die Reform in der Praxis implementiert worden war, ergriff eine wohl beispielsweise Protestwelle gegen die Neue Mathematik die Bundesrepublik. Dabei war die Reform des Mathematikunterrichts an den weiterführenden Schulen kein Thema, der Unmut richtete sich allein gegen die “Mengenlehre” in der Grundschule. […] Ein Jahr später waren sämtliche Massenmedien auf eine hysterische Debatte aufgesprungen, an der praktisch die gesamte Öffentlichkeit der Bundesrepublik Anteil nahm. Einen Eindruck von der Situation vermittelt Der Spiegel vom 25. März 1974, der der Reform unter der bemerkenswerten Schlagzeile ‘Macht Mengenlehre krank?’ seine Titelseite widmete. Der zugehörige Artikel macht deutlich, wie weit die öffentliche Aufregung ging – eine Fernsehsendung zum Thema wußte nur von gegnerischen Stimmen zu berichten – und wie sehr sich die Öffentlichkeit teilweise von jedweder sachlichen Auseinandersetzung entfernt hatte. Obwohl sich offenbar auch weite Teile der nicht direkt betroffenen Bevölkerung eine Meinung zur “Mengenlehre” gebildet hatten, waren es doch vor allem die Eltern grundschulpflichtiger Kinder, die protestierten. Neben den Anschaffungskosten für Material und der häufig geäußerten Sorge, eine Kürzung der Arithmetik zugunsten der neuen Inhalte würde unweigerlich zu schwächeren Rechenleistungen führen, war ein Argument, vermutlich ausgelöst durch fehlendes eigenes Verständnis der neuen mathematischen Inhalte, dass Eltern ihren Kindern nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen konnten. Ob dies überhaupt in großem Umfang nötig war, bleibt indes unklar. In dem im Spiegel wiedergegebenen Zitat eines “Mengenlehre-Gegner[s], die Kinder [sehen] früh, zu früh, ihre Eltern hilflos und unwissend. Damit schwindet die Achtung, die Kinder können nicht mehr ihre Eltern fragen, deren Vorbild verblaßt” kommen jedoch tieferliegende gesellschaftliche Überzeugungen zum Ausdruck, die sich gegen die emanzipatorischen Ziele der Reform richten und in der öffentlichkeitswirksamen Verteufelung der “Mengenlehre” ein eher zufälliges Ventil finden. Wie hoch in jedem Fall das Informationsbedürfnis über das, was im Mathematikunterricht geschah, in der Elternschaft war, belegen der Erfolg speziell für Eltern geschriebener Bücher über die Neue Mathematik, die Tatsache dass entsprechende Volkshochschulkurse Anklang fanden und auch die 1974 eigens zum Thema vom Niedersächsischen Kultusministerium herausgegebenen Hilfen zur Durchführung von Elternabenden. […]
Der heute so absurd anmutende Spiegel-Titel war weder reine Ironie noch bewußte Provokation, sondern gab wieder, was einige Ärzte tatsächlich öffentlich kolportierten, dass nämlich die mit den neuen Inhalten einhergehende Überforderung – für die es ihrerseits keine Belege gibt – Kinder krank mache. Wie ernst diese Aussagen genommen wurden, wir deutlich angesichts der Tatsache, dass die Frage vermeintlicher Gesundheitsschädigung es bis in die Parlamente schaffte und bei einer Anhörung in Baden-Württemberg 1974 ein eigens eingeladener Kinderpsychologe beschwichtigen mußte. […] Etwa zeitgleich belegten Untersuchungen des Berliner wie des Bremer Senats erste positive Wirkungen der Modernen Mathematik, die den Reformzielen entsprachen: höhere Motivation, leichte Leistungssteigerung und die Verringerung sozialer Unterschiede. Ende 1974 beruhigte sich die Lage. Es scheint, dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in der Hitze der Diskussion regelrecht verausgabt hatten und nun einer rationaleren Auseinandersetzung mit den verschiedenen Argumenten fähig waren. Die Folgen der negativen Berichterstattung waren dennoch erheblich. Bereits der Spiegel mutmaßte mit Bezug auf die Schlagzeilen, “daß die Mengenlehre an Deutschlands Schulen daran stirbt.” Dass die Medien anfangs sogar großen Optimismus verbreiteten, ließ den Stimmungsumschwung noch schärfer ausfallen.
[…]
Es verdient hier noch unbedingte Erwähnung, dass die Erwachsenen die Diskussion um die “Mengenlehre” unter sich ausmachten, während Grundschulkinder – und damit die Hauptabnehmer der Reform – nie systematisch zum Mathematikunterricht befragt wurden. Es finden sich jedoch diverse Quellen, die darauf hinweisen, dass die Kinder mitnichten überfordert waren, die neuen Inhalte viel schneller beherrschten als die Erwachsenen – mithin wohl auch häufig keiner Hausaufgabenhilfe bedurften – und generell Freude an ihrem Mathematikunterricht empfanden. Noch 1973 konstatierten 73% der betroffenen Eltern in Baden-Württemberg, der Unterricht mache ihren Kindern Spaß, während 18% angaben, ihre Kinder empfänden Widerwillen.
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