In einem abgeschlossenen Intervall [a,b] hat jede Folge eine konvergente Teilfolge. Das folgt aus dem Satz von Bolzano-Weierstraß und es war den Analytikern seit dem 19. Jahrhundert klar, dass das eine sehr nützliche Eigenschaft des abgeschlossenen Intervalls ist, und allgemeiner auch eine nützliche Eigenschaft abgeschlossener und beschränkter Teilmengen des Rn. Frechet hatte 1905 in seiner Arbeit über metrische Räume diese Eigenschaft als „Kompaktheit“ bezeichnet.

Auch schon im 19. Jahrhundert hatte man verwendet, dass offene Überdeckungen kompakter Mengen endliche Teilüberdeckungen haben (Satz von Heine-Borel) oder dual, dass der Durchschnitt unendlich vieler abgeschlossener Teilmengen von A nur dann leer ist, wenn dies bereits für den Durchschnitt einer endlichen Auswahl dieser Mengen zutrifft. (Insbesondere hat eine absteigende Folge unendlich vieler abgeschlossener Teilmengen nichtleeren Durchschnitt, was von Georg Cantor bewiesen wurde.)
Urysohn und Alexandrow verwendeten 1924 für die Überdeckungseigenschaft – zur Abgrenzung von Frechets Kompaktheitsbegriff – die Bezeichnung „bikompakt“, letztlich setzte sich aber durch, diese Eigenschaft als Kompaktheit zu bezeichnen.

Spätestens nachdem Andrei Tichonow mit dem auf Überdeckungen beruhenden Kompaktheitsbegriff 1935 beweisen konnte, dass ein beliebiges (unendliches, sogar überabzählbares) Produkt kompakter Räume wieder kompakt ist, war klar, dass dies die „richtige“ Definition war. (Mit der Definition der Folgenkompaktheit gälte das nur für endliche Produkte: in einem unendlich-dimensionalen Würfel \left[0,1\right]^\infty hat die Folge der Basisvektoren ei keine konvergente Teilfolge.)

Im Spezialfall von Produkten von Intervallen hatte Tichonow den Satz schon 1930 bewiesen. Den Beweis für den allgemeinen Fall fand er 1935, schrieb ihn selbst aber nie auf. (Das tat zwei Jahre später Eduard Čech.)

Eine wichtige Anwendung des Satzes von Tichonow ist die schwach-*-Kompaktheit beschränkter, abgeschlossener Menge im Raum der Maße auf einem gegebenen Raum. (Oder allgemein die Kompaktheit beschränkter, abgeschlossener Mengen im Dual eines normierten Vektorraums, das ist der Satz von Banach-Alaoglu).
Eine andere typische Anwendung sind Kompaktheitssätze in der Logik. Weiterhin verwendet man den Satz von Tichonow für die Konstruktion einer universellen Kompaktifizierung, der Stone-Čech-Kompaktifizierung beliebiger topologischer Räume. Und man benötigt den Satz von Tichonow auch für die Konstruktion des Haarmaßes, die wesentlich ist für die harmonische Analysis auf lokalkompakten Gruppen. (Haars berühmte Arbeit „Der Massbegriff in der Theorie der kontinuierlichen Gruppen“ war bereits 1933 erschienen, eine Formalisierung von Haars intuitivem Argument gab aber erst 1940 André Weil mit Hilfe des Satzes von Tichonow.)

Tichonow habilitierte 1936 an der Lomonossow-Universität mit einer Arbeit über Gleichungen vom Volterra-Typ und arbeitete später vor allem über angewandte Mathematik.

Im September 1935 fand in Moskau eine große Konferenz über Topologie statt, die erste wirklich internationale Konferenz in einem Spezialgebiet der Mathematik. Diese Konferenz war die Geburtsstunde der Kohomologie wie der Homotopiegruppen und auch der charakteristischen Klassen.

Die Definition von Kohomologiegruppen ist natürlich nicht spektakulär. Die Kohomologie mit reellen Koeffizienten ist einfach das Dual der Homologiegruppen und war als solche schon häufiger implizit vorgekommen. Beispielsweise hatte de Rham bewiesen, das man mit Differentialformen gerade das Dual der Homologiegruppen mit reellen Koeffizienten definieren kann. Die Neuigkeit auf der Konferenz war aber, dass man mit der Kohomologie für völlig beliebige Räume Produkte erklären können sollte.
(Es gab zwar Lefschetz‘ Schnitttheorie, die von Hopf als Produkt auf den Homologiegruppen interpretiert worden war, die aber nur für Varietäten funktionierte.)
Auf der Konferenz schlugen Kolmogorow und Alexander eine einfache simpliziale Definition des Cup-Produkts auf der Kohomologie vor: zu zwei Kozykeln f und g sollte das Cup-Produkt angewandt auf einen Simplex (v0,…,vn) sich berechnen als f(v0,…,vr)g(vr+1,…,vr+s+1). Es gab allerdings ein offensichtliches Problem mit dieser Definition: ihr Produkt einer r-Kokette mit einer s-Kokette hatte Dimension r+s+1, es sollte aber Dimension r+s sein. Whitney und Čech fanden einige Monate später unabhängig voneinander die richtige Definition f(v0,…,vr)g(vr,…,vr+s) – anschaulich die Anwendung von f auf die Vorderseite multipliziert mit der Anwendung von g auf die Rückseite des Simplexes. Sie veröffentlichten diese als Cup-Produkt bezeichnete Definition in zwei getrennte. Arbeiten in den Annals of Mathematics.
Es war irgendwie klar, dass die Kohomologietheorie mit der Produktstruktur eine große Sache sein sollte, aber erst später fand man viele Beispiele von Räumen, die sich nicht durch ihre Homologiegruppen, aber durch das Cup-Produkt auf der Kohomologie unterscheiden lassen. Wenn man zum Beispiel zwei Kreise an eine 2-dimensionale Sphäre in einem Punkt anklebt, dann hat der so gebildete Raum dieselben (Ko)Homologiegruppen wie der Torus, aber anders als beim Torus ist das Cup-Produkt trivial.

Die Definition der Homotopiegruppen wurde auf der Konferenz von Hurewicz vorgeschlagen. Alexander meinte dazu, das habe er schon vor vielleicht zwanzig Jahren in Betracht gezogen, er hätte aber gefunden, das sei zu einfach und könne nicht zu tiefen Resultaten führen. Auch Čech hatte schon drei Jahre zuvor auf dem ICM in Zürich über diese Definition gesprochen, das Projekt aber aufgegeben nachdem ihn jemand darauf hinwies, dass diese Homotopiegruppen immer kommutativ sind und deshalb nichts Interessantes geben könnten. Hurewicz vermutete nun aber in seinem Vortrag, dass die Homotopiegruppen einer geschlossenen Mannigfaltigkeit ihren topologischen Typ bis auf Homööomorphismus festlegen. (Das dies nicht der Fall ist, zeigte Kurt Reidemeister bald danach mit seiner Arbeit über Linsenräume. Whitehead bewies aber später, dass die Homotopiegruppen immerhin den Homotopietyp geschlossener Mannigfaltigkeiten festlegen.)
Tatsächlich waren manche Homotopiegruppen schon vor ihrer Definition berechnet worden. Heinz Hopf hatte 1930 die Abbildungen S3—->S2 mittels der Verschlingungszahl ihrer Fasern beschrieben; Pontrjagin bewies dann, dass diese Invarianten die Homotopieklassen klassifizieren und damit in der jetzt eingeführten Sprache der Homotopiegruppen, dass π3S2= Z ist.

Hopf selbst präsentierte auf der Konferenz Ergebnisse seines Studenten Eduard Stiefel über die Existenz linear unabhängiger Vektorfelder auf einer Mannigfaltigkeit. Dieselben Resultate hatte auch Whitney präsentieren wollen, Stiefels Ergebnisse waren jedoch besser; zum Beispiel konnte er beweisen, dass alle orientierbaren 3-Mannigfaltigkeiten parallelisierbar sind. Andererseits hatte Whitney eine viel allgemeinere Definition charakteristischer Klassen für beliebige Bündel. Sowohl Stiefel als Whitney definierten ihre charakteristischen Klassen als Homologieklassen des Ausartungslokus eines Tupels von Vektorfeldern in allgemeiner Lage. Die Idee, diese charakteristischen Klassen über die klassifizierende Abbildung und die Kohomologie der Graßmann–Mannigfaltigkeit zu definieren, hatte erst einige Jahre später Pontrjagin. (Womit dann auch die Theorie charakteristischer Klassen die neue Kohomologietheorie benutzte.)

Whitney bemerkte auch, dass er Hopfs Klassifikation der Homotopieklassen von Abbildungen eines n-dimensionalen Komplexes X nach Sn besser mit Klassen in der Kohomologie darstellen konnte. Hopf hatte Homologiegruppen benutzt und durch die mögliche Torsion in Hn-1(X;Z) ein ziemlich kompliziertes Theorem formulieren müssen. Whitney nutzte stattdessen Kohomologie, ordnete jeder Abbildung f:X—>Sn das Zurückgezogene des Erzeugers von Hn(Sn;Z) zu und bekam eine Bijektion der Homotopieklassen von Abbildungen mit der Kohomologie Hn(X;Z). Das war vielleicht die erste wirkliche Anwendung der Kohomologiegruppen.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:TikhonovAndreyNikolayevich_Moscow1935.tif

Kommentare (6)

  1. #1 Beobachter
    17. Juli 2020

    Gibt es in der Geschichte der Mathematik so gar keine bedeutenden Mathematikerinnen –
    außer Emmy Noether ?

    Ich sehe hier in dieser Beitragsreihe immer nur Porträt-Fotos von Mathematikern …

  2. #2 rolak
    17. Juli 2020

    gar keine bedeutenden Mathematikerinnen?

    Beobachte doch mal die KomplettZahlen ‘Studentinnen in D’, beobachte genauer die Titel dieser ArtikelReihe und entscheide, ob diese Frage von Dir tatsächlich sinnvoll war.

  3. #3 Thilo
    17. Juli 2020

    Für den Zeitraum vor ´45 war Emmy Noether schon ziemlich singulär. Wenn ich zeitlich weiter zurück ins 19. Jahrhundert gegangen wäre, hätte ich vielleicht noch über Kowalewskajas Kreiseltheorie schreiben können.

  4. #4 Beobachter
    17. Juli 2020

    @ rolak:

    Gott sei Dank kann man tatsächlich aus verschiedenen sinnvollen Blickwinkeln beobachten.
    Der deinige muss nicht der einzig (vermeintlich) “richtige, wahre” sein. 🙂

  5. #5 Beobachter
    1. August 2020

    Zu “Bedeutende Frauen in den Naturwissenschaften”:

    Z. B. Rosalind Franklin, Biochemikerin, 1920 – 1958,
    potentielle Nobelpreisträgerin:

    https://www.deutschlandfunk.de/die-biochemikerin-rosalind-franklin-wegweisend-fuer-die.871.de.html?dram:article_id=481178

    siehe auch nebenan:

    https://scienceblogs.de/wissenschaftsfeuilleton/2020/07/31/rosalind-franklin/

  6. […] von Brauer-Hasse-Noether Das Fundamentallemma der mathematischen Statistik Pontrjagin-Dualität Der Satz von Tichonow Der Einbettungssatz von Whitney Der Satz von Winogradow Der Sobolewsche Einbettungssatz Der Satz […]